Lisa McInerney hätte auch nur die Geschichte von Ryan erzählen können. Dem Jungen aus der Sozialbausiedlung in Cork, wobei die Sozialbausiedlung hier immerhin aus kleinen Reihenhäuschen besteht und keine einwohnerstarke Plattenbausiedlung à la Berlin-Gropiusstadt ist. Und ein Klavier hatte dort, bis der Vater es verkaufte, auch Platz. Das hätte es in der Gropiusstadt auch nicht gegeben. Aber dennoch, es sind bescheidene Verhältnisse. Zudem die Mutter verstorben, der Vater ein Trinker, 5 jüngere Geschwister.
Ryan ist 15, als der Roman beginnt, gerade mit seiner ersten großen Liebe Karine auf dem Weg zum ersten gemeinsamen Koitus. Dann ist er 16, sein Vater schlägt ihn, er dealt, wird mit Koks erwischt. Ryan wird 17, 18, 19, er wird Knacki, Dealer, DJ und Player. Und ist eigentlich am Ende doch nur der nette Junge, der schon mit 21 alles hätte anders machen können.
Der Zweck heiligt die Mittel
Lisa McInerney hätte aber auch nur die Geschichte von Maureen erzählen können. Maureen erschlägt einen Einbrecher, der etwas wichtiges vergessen hatte. Immerhin ist ihre derzeitige Heimstatt ein ehemaliges Hurenhaus. Ihr Sohn, der organisierte Verbrecher Jimmy P. hat sie dort einquartiert, natürlich erst nachdem er seine Geschäfte dort niedergelegt hat.
Niedergelegt hat sich auch besagter Einbrecher, nachdem ihn Maureen mit einer Devotionalie, einem sehr heiligen Stein, so kraftvoll am Kopf erwischt hat, dass ihm auch das letzte Lebenslicht ausging. Das entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie. Und Maureens Verhältnis zu katholischen Relikten, seien sie nun materieller oder ideeler Natur, ist seit jeher schwierig, seit sie ihren Sohn nicht aufziehen durfte, weil sie unehelich in andere Umstände kam und dann fortgeschickt wurde, um die Schande außer Landes zu tragen. Das katholische Irland in den 1970er Jahren, ein Paradies für junge Frauen. Und ja, das ist ironisch gemeint.
Lebensgeschichten
Aber Lisa McInerney erzählt nicht nur diese zwei Geschichten. Lisa McInerney packt in ihr Debüt noch einen ganzen Haufen anderer Leben. Das von Tony Cusack, dem trinkenden Witwer und Vater von Ryan, dem Jungdealer. Das der Nachbarin Tara Duane, einer widerlichen Persona non grata, mit der die Autorin ein sehr wichtiges Thema im Roman verbaut. Das von Georgie, einer drogenabhängigen Prostituierten, die sowohl mit dem niedergelegten Einbrecher als auch mit dessen Lebensbeenderin Maureen zu tun hat und haben wird.
Man könnte bei der Aufzählung der einzelnen Charaktere durchaus meinen, dass »Glorreiche Ketzereien« ein irgendwie düsterer und vermutlich harter Roman ist. Doch die Themen wie Drogen, Alkohol, häusliche Gewalt, Prostitution, Kriminalität werden hier in einen vorwiegend nachbarschaftlichen und familiären Kontext gesetzt, ja fast schon im Stile einer täglichen Vorabendserie gestrickt, und so war für mich dieser Roman weniger durch eine Art Straßenhärte geprägt, als vielmehr von seiner Fähigkeit, Lebensgeschichten zu erzählen und auf zwischenmenschliche Beziehungen zu schauen.
Grundsteinlegung
Der Roman ist wie ein Mosaik aus Lebensgeschichten und dieses mosaikartige Erzählen macht auch die Stärke des Romans aus. Das, und sicherlich auch die Geschichte von Ryan, der hier trotz der eigentlichen Ensembleleistung des Personals die Hauptrolle spielt, dessen Erwachsenwerden von äußeren und inneren Umständen geformt wird und sich ausbeult und eindellt und man das alles miterlebt und schon ahnt, dass hier eine Art Grundsteinlegung stattfindet, vielleicht für einen späteren Gangster, sicherlich für einen späteren Roman. Und es ist auch die Art der alten Maureen, ein wenig kratzbürstig und rebellisch, eigensinnig, resolut und lebensgegerbt, nicht ohne Humor und mit viel Empathie gezeichnet.
Zu Beginn hatte ich ein Weilchen den Eindruck, die Autorin sucht noch nach ihrem eigenen Ton. Das war im Text, in den Dialogen stellenweise etwas inkonsistent. Bemüht um einen bestimmten Eindruck von Lässigkeit, der gar nicht notwendig war, weil die Autorin über einen derart tollen, bildhaften Stil verfügt, der einfach grandios und sehr angenehm ist, wenn sie ihn auslebt.
Auch lässt Lisa McInerney hier und da ein paar ihrer Figuren links liegen. Das ist nicht schlimm, lenkt letztlich den Fokus auf das, was der Autorin wichtig war und das lässt sich trotz ein paar klitzekleiner Längen sehr klasse lesen und die Fortsetzung, die liegt auch schon in den letzten Sätzen des Romans.
Fazit: Alles zusammengenommen erzählt »Glorreiche Ketzereien« also von den Leben einer bestimmten Gruppe von Menschen im irischen Cork. Über einen Zeitraum von fünf, sechs Jahren und nimmt man die Erinnnerungen der älteren Figuren dazu, werden es Jahrzehnte. Jahrzehnte irisch-katholischen Lebens, eine kleine Abrechnung der Autorin mit Irland, mit dem Katholizismus, mit der Heuchelei und Frömmigkeit und dem Glaubenseifer. Auch mit der wirtschaftlichen Lage, der Sozialstruktur. »Glorreiche Ketzereien« ist eigentlich ein Sozialdrama, was es am Ende zu starker Kriminalliteratur macht.
Lisa McInerney – Glorreiche Ketzereien
Originalausgabe »Glorious Heresies« (2015)
übersetzt aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Juni 2018 im Liebeskind Verlag
Hardcover | 448 Seiten | 24,00 EUR
Genre: Roman/Kriminalroman/Sozialdrama
Reihe: geplant sind drei Romane
Schauplatz: Cork/Irland
Hallo,
das klingt sehr ungewöhnlich, aber auch sehr gut! Ich liebe Krimis, die ein bisschen von der Norm abweichen. 🙂
Ich habe diesen Beitrag HIER für meine Kreuzfahrt durchs Meer der Buchblogs verlinkt.
LG,
Mikka
Hallo Mikka!
Danke fürs Feedback und fürs Verlinken, ja, wenn Du keinen Mainstream-Krimi suchst, ist das hier eine sehr sehr gute Wahl! 🙂
Viele Grüße!
Huhu!
Ich konnte es mir jetzt doch nicht verkneifen, mal in Deine Rezi reinzulinsen. Sehr schön geschrieben.. meine folgt ja dann bald. 🙂
Grüßle,
Christina
Danke! 🙂 Bin auch schon sehr gespannt, was Du dazu schreibst, und freue mich nicht minder auf den Anlass dazu! 😀
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