Masako Togawa – Der Hauptschlüssel

Japan in den späten 1950er Jahren. Ein Frauenwohnheim in Tokio soll versetzt werden, um geplanten Straßenerweiterungsplänen nicht länger im Weg zu sein. Besser als ein Abriss, finden die Bewohnerinnen und stimmen den Bauarbeiten zu.

Und während das Freilegen der Fundamente des Gebäudes noch ein rein physischer Vorgang ist, beginnt bei einigen Bewohnerinnen aber auch auf psychischer Ebene der Putz zu bröckeln und Geheimnisse werden wie von einer verborgenen Macht gelenkt ans Tageslicht befördert. Oder vielmehr gezerrt. Als würden im Hintergrund unsichtbare Strippen gezogen. Ein Marionettenspiel. Ein fabelhafter Roman.

 

Vor sieben Jahren

»Der Hauptschlüssel« von Masako Togawa beginnt sieben Jahre zuvor. Als ein Mann als Frau getarnt beim Überqueren einer Straße überfahren wird. Zuvor hatte er im Frauenwohnheim eine schwere Tasche bei Chikako Ueda abgeben wollen. Leider war der Inhalt nicht mehr … brauchbar. Zur gleichen Zeit wurde der vierjährige Sohn eines amerikanischen Majors und seiner jungen japanischen Frau entführt. Eine Übergabe mit den Entführern scheiterte, der kleine George ward nicht mehr gesehen.

Die beiden Pförtnerinnen des Wohnheims, Katsuko Tojo und Kaneko Tamura erinnern sich, dass Chikako Ueda zu dieser Zeit Besuch von ihrer Cousine hatte. Und in einem ungenutzten Gemeinschaftsbad im Keller des Frauenwohnheims liegt eine Kinderleiche begraben. Schauerlich.

 

Zusammenhänge

Und wer jetzt meint, zu ahnen, wie das alles zusammenhängen könnte, nein, wirklich, vergesst es gleich wieder, alles ganz anders. Nun, das meiste. Oder? Wenn es gut läuft, wisst ihr am Ende des Romans Bescheid. Und wenn es richtig gut läuft, habt ihr am Ende des Romans gerade einmal eine vage Idee. Ich sitze jetzt noch hier, und das nach zahlreichen Notizen, die ich mir eigentlich nur für die Rezension gemacht habe und überlege, was ich übersehen habe. Oder warum dieses oder jenes nicht ins Bild passt. Oder was genau davon. Und das nicht, weil ich meine, der Autorin seien Logikfehler unterlaufen. Au contraire!

Nein, ganz im Gegenteil, Masako Togawa weiß haargenau, was sie erzählt, was sie verschweigt, wann sie etwas erzählt und in welcher Reihenfolge sie das tut. Man muss nur sehr genau zuhören, was sie sagt und was sie vor allen Dingen nicht sagt. Wo unser schlaues Köpfchen eigene Zusammenhänge herstellt, die so überhaut nie erwähnt wurden. Voreilige Schlüsse ziehen, nennt man das.

 

Ein kluger Schachzug

Ich fühle mich ein wenig wie ein leicht einfältiger John Watson, der auf seinen Sherlock wartet und mit einer rückblickend völlig einleuchtenden Deduktion in mit flotter Musik unterlegten Rückblenden samt Zeitlupe, Zeitraffer und Bullet Time, so viel Spaß darf sein, erklärt bekommt, wo der Hase im Pfeffer liegt.

Aber wisst ihr was, ich mag dieses Gefühl! Ja, und warum nicht einen draufsetzen, ich liebe es! Weil Masako Togawa dieses, und hier möchte ich den Klappentext, weil furchtbar treffend, zitieren, »ein kriminologisches Verwirrspiel« entwirft, das schlicht großartig komponiert ist und einen auf eine Art austrickst und hinters Licht führt, die einfach nur wahnsinnig klug ist und dabei sehr sensibel und einfühlsam und von genauer Charakterzeichnung geführt eine Geschichte erzählt, die viel mehr ist als nur die Bühne für dieses Spiel.

 

Studie in Isolation

Denn im Prinzip geht es hier um ganz große und schwere Themen, um Einsamkeit, um Isolation. Um Sinnsuche im Leben und Anerkennung, das Gefühl, nicht zu genügen. Um Verlust, ums Bereuen und das Verpassen von Gelegenheiten, um Bedauern, um das Gefühl von Unterlegenheit, um das Vergessen- und das Unsichtbarwerden, um Träume und Wünsche, um Hoffnungen und damit letztlich einfach um das Leben.

Masako Togawa macht sich hierfür ihren smart gewählten Schauplatz, das Wohnheim, zunutze und lässt in jedes Zimmer ein Leben einziehen, eine Frau mit ihrer Geschichte, von denen wir im Laufe der Handlung einige ausgewählte kennenlernen und kurz in ihre Zimmer, in ihre Leben eintreten dürfen.

So ist da zum Beispiel die ehemalige Weltklassegeigerin, die heute nur noch Kinder aus der Nachbarschaft unterrichtet. Dann die Witwe eines Professors, die immer noch die alten Manuskripte ihres verstorbenen Mannes überarbeitet. Oder auch die ehemalige Japanischlehrerin, die beginnt, all ihren Schülerinnen Briefe zu schreiben. Nicht zu vergessen die beiden Pförtnerinnen, die eine liest viel, die andere tratscht gerne. Und auch die Frau, die sie nur »die Vogelscheuche« nennen, weil sie immer in zerschlissener Kleidung über die Flure streicht und die Abfälle durchsucht.

 

Zutritt

Was sich da offenbart, sind oft traurige Geschichten, tragische Geschichten, wechselhafte Geschichten, behutsam von der Autorin beleuchtet, gleichzeitig auch Geschichten, die von einer durchaus latent vorhandenen, kriminellen Energie erzählen. Und die hier und da nicht einer feinen und leisen Komik entbehren, was Togawas Charakterzeichnungen nur noch klüger macht.

Als roter Faden zieht sich dabei dann der symbolträchtige und titelgebende Hauptschlüssel, der Generalschlüssel des Wohnheims, durch die Handlung. Er gewährt Zutritt zu jedem Zimmer. Zu jedem Leben. Er hat die Macht, den Besitzenden in die Leben der einzelnen Frauen treten zu lassen und ihre gut gehüteten Geheimnisse, ihre Fehler und ihre Verluste, Bereutes und Schamhaftes, zu sehen.

Ein ganzes Leben in einem einzigen Zimmer, und mit dem Hauptschlüssel zugängig, enttarnt, entlarvt. Oh dieser Schlüssel! So verführerisch! Und wie unangenehm für jede Bewohnerin das Gefühl, als er entwendet wird. Sein Verschwinden löst eine Reihe wundersamer Ereignisse aus, eine Kettenreaktion setzt sich in Gang.

 

Togawa berichtet

Erzählt wird das alles von der Autorin in einem wunderbar klaren und gerade zu Beginn fast schon berichtartigen Stil. Masako Togawa wechselt von Figur zu Figur, nimmt damit unterschiedliche Blickwinkel, Perspektiven ein, begleitet jede ein Stück, nur um ganz am Ende einen Kreis zuschließen.

Das Berichthafte in ihrem Erzählen hat etwas literarisches, die schon erwähnte, leise Komik in manchen Verhaltensweisen und Figurenzeichnungen verleiht der Handlung eine Attitüde, die ich sehr mochte, weil sie niemanden bloßstellt, aber dennoch von ausgezeichneter Beobachtungsgabe zeugt und ihre Charaktere feinsinnig und klug einsetzt.

Alles in allem also ist »Der Hauptschlüssel« für mich eine unglaublich erfreuliche Lektüre gewesen, der ich stilistisch sehr zugetan war und die mich mitgenommen hat in dieses Frauenwohnheim, durch die dunklen Gänge, ein Leben pro Zimmer und eine Geschichte hinter jeder Tür. Masako Togawas Art, diese alle miteinander zu verknüpfen, von Einsamkeit und Isolation zu erzählen, von dem Wunsch nach Zugehörigkeit, und dabei gleichzeitig ein so gewitztes und verzwicktes, dichtes Verwirrspiel zu inszenieren, war schon verdammt großes Kino auf gerade einmal 156 Seiten.

 

 


© Unionsverlag
Masako Togawa – Der Hauptschlüssel

Originalausgabe »Ooinaru Gen’ei« (1962)

aus dem Englischen von Helma Giannone

Übersetzung folgt engl. Ausgabe »The Master Key« (1985)

April 2004 im Unionsverlag

Taschenbuch | 176 Seiten | 8,90 EUR

Genre: Kriminalroman

Reihe: Einzelband

Schauplatz: Tokio, 1950er Jahre

 

 

Die Besprechung erscheint im Rahmen des Blog-Spezials »Kriminalliteratur aus Ostasien« mit Bloggerkollegin Christina von »Die dunklen Felle«.

 

Außerdem von Masako Togawa erhältlich:

 

 

 

 

 

 

 

9 Kommentare zu “Masako Togawa – Der Hauptschlüssel

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  • 9. September 2019 at 12:38
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    Das hört sich großartig an!
    Ah, die Autorin muss gleich von der Wunschliste runter und ab in den SUB.
    Wobei ich ein wenig verwundert bin – 176 Seiten sind ja nun nicht viel, das hat mich schon überrascht, denn nach Deiner Rezension und der Fülle, die Du beschreibst, würde man mehr erwarten. Aber es gibt eben Autoren / Autorinnen, denen es gelingt auf wenigen Seiten genauso viel zu transportieren wie anderen auf Hunderten mehr.

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    • 9. September 2019 at 13:06
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      Jup, ganz klar so ein Fall, wo eine Autorin gar nicht so viele Seiten braucht und trotzdem eine ganze Welt unterbringt. Bin ja auch eh Fan kürzerer Romane, das kann man, denke ich, schon sagen. Aber kommt am Ende letztlich doch immer auf den Stoff an. Und natürlich auf die Autorin, den Autor. Für mich war das ja auch der erste Togawa-Roman und ich muss da auch wirklich bald weiterlesen, eine sehr sehr coole (Spät-)Entdeckung, zumal, ach Mist, das wollte ich in der Rezension eigentlich noch erwähnen, der Roman von 1962 ist und kein bisschen angestaubt wirkt.

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  • 10. September 2019 at 12:09
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    Hach, das freu mich, dass es dir gefällt :3
    Mich hat es damals auch total positiv überrascht!
    Die anderen beiden Bücher kenn ich auch schon von ihr. Die sind auch gut, kommen aber mMn nicht an dieses Buch hier heran 🙂

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    • 10. September 2019 at 12:37
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      Das Buch stand auch ewig bei mir im Regal, man nimmt sich das dann immer vor und dann schwirren tausend andere Titel um einen herum. Aber tolle Autorin, wirklich klasse! Freue mich jetzt auch schon auf die anderen beiden, selbst wenn sie nicht an das hier heranreichen. “Trübe Wasser…” habe ich schon hier und “Schwestern der Nacht” wird gerade bestellt. 😀

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  • 10. September 2019 at 17:38
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    Masako Togawa, 2016 verstorben, zählte in ihrer Heimat zu Recht zu den bedeutendsten Krimiautorinnen, während sie bei und stets bös unterschätzt wurde – nur vier ihrer knapp zwanzig Krimis liegen in deutschen Übersetzungen vor: Neben den drei erwähnten Titeln auch noch ‘Der Kuss des Feuers’ aus dem Jahr 1985.

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