Ganz im Ernst, solange es noch Menschen gibt, die solche Romane schreiben und Verlage, die sie verlegen, ist meine kleine Welt einfach mal kurz in Ordnung.
»Der weiße Affe« von Kerstin Ehmer erzählt einen Kriminalfall vor der Kulisse Berlins in den 1920er Jahren. Und das auf eine Art, die thematisch und sprachlich so reich und ansehnlich gerät, dass der Roman zu einer Perle in diesem Krimijahr wird.
Ist nicht alles Gold was glänzt
Und so beginnt »Der weiße Affe« mit der Ankunft des Kommissars Ariel Spiro in der Weltstadt Berlin. Vom ländlichen Wittenberge an der Elbe und mit einigen Ermittlungserfahrungen im Rücken tritt er seinen Dienst bei der Kriminalpolizei an der Spree an. Berlin ist laut, voll, lebhaft und kriminell. Der Glanz der Goldenen Zwanziger bezirzend, die Realität schmutzig und ernüchternd.
Aber in Berlin lebt man mit Herz und Schnauze. Und so ist die kleine Erika auch nicht aus der Fasson zu bringen, als sie eines Morgens den toten Bankier Eduard Fromm im Hinterhaus entdeckt und dem Kommissar Spiro später erklärt, dass der Herr sonst immer das Fräulein Hilde besucht. Das Fräulein Hilde lebt auch im selben Hinterhaus. Hildegard Müller ist Tänzerin im Metropol Theater und hatte in dem Bänker einen Gönner. Einen Kavalier, der ihr die Wohnung anmietete, hübsch einrichtete und viermal die Woche abends zu Besuch kam. Nun wurde er also im Treppenhaus erschlagen.
Verdächtige gibt es zahlreiche. Vom eigentlichen Verlobten des Fräuleins, der Freundschaften zur widerwärtigsten Seite der Stadt unterhält, über den Stellvertreter des Bankiers, der ebenso fragwürdige Kontakte pflegt bis hin zur Familie des Ermordeten. Die Ehefrau Charlotte eine begnadete Pianistin und Künstlerseele, die erwachsenen Kinder Nike und Ambros. Sie selbstbestimmt und klug, er ein Leben zwischen Champagner, Kokain und Amusement. Nur will keine der Geschichten so richtig passen, die sich Spiro und seinem Kollegen Bohlke da präsentieren.
Bittersweet
Spannend ist, wie der Roman sich um seine Figuren herum entwickelt. Wie während der Ermittlungen sich anhand der einzelnen Akteure ein Bild von der Stadt und seinen Menschen, von der Gesellschaft formt. Und wie viele Facetten dabei einfließen. Wie viel Schönes und wie viel Bitteres, wie viel Abscheuliches und wie viel Hoffnungsvolles. Der Fokus liegt dabei dann irgendwann bei der Familie Fromm und dem Kommissar Spiro, arbeitet mit den gegensätzlichen Wesenszügen des Ermittlers und der jungen Großstädter Nike und Ambros, zeichnet private Szenen in der Bar »Cocotte« und im später zerstörten Institut für Sexualwissenschaften, im Tiergarten oder auch in der Pension, in der Spiro sein Zimmer hat.
Eine eindringliche Geschichte erzählen auch die im Roman kursiv gedruckten Passagen. Episoden aus einem anderen Leben, stellenweise bizarr und etwas surreal, bedrückend. Sehr großartig erzählt und nochmal eine weitere Facette in diesem Roman, im Stil und in der Figurenführung.
»Der weiße Affe« ist übrigens das Krimidebüt der Autorin Kerstin Ehmer. Zuvor erschien 2013 bereits bei Metrolit »Die Schule der Trunkenheit«, ein Buch über die kulturelle Entwicklung des Alkoholgenusses, das sie als Inhaberin der »Victoria Bar« in Berlin mit viel Fachkenntnis zusammenstellte. Außerdem ist Kerstin Ehmer als Mode- und Portraitfotografin tätig, einen Eindruck von ihrer Ästhetik kann man hier gewinnen.
Sprachvolumen
Gründlich, umfangreich und gewissenhaft ist die Recherche und das Wissen der Autorin um die Stadt und ihr Leben in den 20er Jahren. Angefangen bei all den Straßen und Plätzen, die heute nicht mehr existieren und deren Geschichten erzählt werden bis hin zum kulturellen, gesellschaftlichen Leben, den Konventionen, Schranken, den Um- und Aufbrüchen.
Und in diesem Kriminalroman findet mehr als das bloße Austauschen von Jahreszahlen, Kulissen und Kostümen statt. Alle Bezüge zur Kultur, die Musik, das Theater, das Nachtleben, zur Politik natürlich, die Zeit der Weimarer Republik zwischen den zwei Weltkriegen, das alles wird bei Kerstin Ehmer zu keiner Lehrstunde oder touristisch geprägten Zeitreise. Ihr gelingt die Kunst, das Berlin dieser Zeit zu reproduzieren. Und die Stadt in einer Form als Schauplatz zu verwenden, die nicht nur Bühne für die Kriminalhandlung ist, sondern in der Berlin selbst eine der Hauptrollen besetzt. Zu keiner Zeit gehen dabei aber die Figuren unter.
Auch das sprachliche Volumen dieses Romans macht mich richtig glücklich. Die Vokabelvielfalt, Begriffe, fast vergessen, tauchen wieder auf, Worte voller vergangener Tage. Dem Roman merkt man ein Talent und eine Liebe zur Sprache an, spürt einen Rhythmus, der die Wörter antreibt, den Sätzen eine eigene Melodie verpasst. Dabei ist der Ton aber nie überladen, oder gar opulent schwelgend, sondern eher wendig und gewitzt. Er hat einen eigenen Geist, einen eigenen Charme. Der Roman ist wirklich eine Wucht und stilistisch war das genau meine Welle. Gleichzeitig überzeugen auch auf ganzer Linie der Krimiplot und die Themen, die verarbeitet werden.
Fazit: »Der weiße Affe« beschwört das Berlin der 20er Jahre so authentisch herauf, der Kriminalfall sitzt, die Sprache ist ein schieres Vergnügen und ick bin janz und jar valiebt.
In Zahlen: Stil: 5/5 | Idee: 5/5 | Umsetzung: 5/5 | Figuren: 5/5 | Plot-Entwicklung: 4/5 | Tempo: 5/5 | Tiefe: 4/5 | Komplexität: 4/5 | Lesespaß: 5/5
Kerstin Ehmer – Der weiße Affe
Originalausgabe
September 2017 im Pendragon Verlag
Klappenbroschur | 280 Seiten | 17,00 EUR
Genre: Kriminalroman
Reihe: aktuell ein Einzelband
Schauplatz: Berlin in den 1920er Jahren
Weitere Besprechungen zu »Der weiße Affe« u.a. bei:
Ich habe deine Rezension jetzt noch nicht gelesen, weil ich momentan selbst das Buch zu lesen anfange und mich überraschen lassen möchte, aber dein Fazit und deine Zahlen sprechen ja ohnehin für das Buch.
Umso mehr freue ich mich auf die Lektüre. Denn ich hätte jetzt auch ganz gerne ein 5-Sterne-Buch. 🙂
Du hattest mit den letzten Lektüren nicht so viel Glück, oder? Das verstehe ich! Wenn mal ein Roman nicht so passt, ok, das gehört dazu, aber ab einer bestimmten Menge in Folge frustriert es dann schon. Ich wünsch es Dir, dass du hier mehr Freude hast! Müsste klappen! 😉
Ja, so kurz vorm Lesen lese ich auch meist keine anderen Besprechungen, will das Buch dann lieber selber entdecken. 😀
Ich schließe mich Iris an, bin noch mittendrin und hab daher nur unten grad dein Fazit angeschaut. Was mir bisher positiv und anfangs gewöhnungsbedürftig auffällt, ist der Schreibstil! Und gut ist auch das Flair und die Wortwahl :3
Zumal ich momentan Miss Fisher bei Netflix zur Einstimmung abends schau und sich das – trotz unterschiedlicher Länder und künstlerischer Freiheiten – gut deckt 🙂
Ja, der Schreibstil war absolut meins, genau sowas mag ich. 🙂
Zum einen, liebe Katja, freuen wir uns riesig über deine fantastische Rezension und sitzen hier mit Herzchen in den Augen im Verlag.
Zum anderen ein kleiner “Fun Fact” 😉 Liebe Kaisu, auch hier im Verlag gibt es zwei riesige Miss Fisher (und Jack ;-)) Fans. Viel Freude noch beim Lesen.
Liebe Fiona, liebe Julia, ganz herzlichen Dank! 😀
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