Was für ein Roman! Für mich war er eine ganz besondere Freude aufgrund seiner Individualität, denn wie oft bin ich beim Lesen auf der Suche nach einem neuen Klang, einem anderen Rhythmus, bitte mehr als nur der übliche Satzbau, mehr als nur Wort auf Wort.
Das habe ich hier gefunden. »Außer Kontrolle« holt mich ab mit seinem Stil, mit seinem Gefühl für den eigenen Beat aus Worten und Bildern. Sein Autor Volker Heise beweist sich dabei auch als vielmehr als ein bloßer, guter Erzähler. Man erkennt den geübten Beobachter und erlebt einen grandiosen Beschreiber.
Volker Heise hat im Jahr 2008 die Fernseh-Dokumentation »24h Berlin – Ein Tag im Leben« produziert. Für mich ein absolut faszinierendes Doku-Erlebnis, das eine Menge Eindruck hinterlassen hat. Kamerateams in der ganzen Stadt haben einen kompletten Tag lang das Leben in Berlin gefilmt. Sie haben Menschen in ihrem Alltag begleitet und daraus eine Dokumentation gemacht, die dann auch eine Spielzeit von genau 24 Stunden hatte. Als diese 2009 ausgestrahlt wurde, dachte ich nur, ja, das ist meine Stadt, mein Zuhause. Seinem Roman »Außer Kontrolle« spürt man diese Doku-Erfahrung nach.
Eine Nacht in Berlin
Und so beschreibt Volker Heise in diesem, seinem Debüt-, Roman eine Nacht in Berlin. Und in diesem schmalen Roman steckt dann auch auf einmal ganz Berlin als ein kompensiertes Panorama. Es ist ein präziser und haarfeiner Blick in die Stadt.
Volker Heise erzählt von dieser Nacht anhand einer Strickleiter von Figuren. Da sind Jan und Nadine, zwei noch sehr junge Menschen, beide vom Land. Er aus Niedersachsen, sie aus Mecklenburg-Vorpommern, Kollegen in einem Call-Center, einsam. Dann ist da Tobias Naujoks, Chefkoch und Inhaber des Restaurants »Paris« im Wedding, ein Sternekoch, ein Restaurant nicht zum Sattessen, sondern zum Zelebrieren kleiner Verdampfungen, die einst Petersilie waren.
Auch Teil dieser Nacht ist Polizeiobermeister Axel Hentschel, ehemals Sondereinsatzkommando mit Leib und Seele, jetzt erste graue Strähnen im Haar und wieder auf Streife mit seinem Kollegen Weber, ein vom Adrenalin aufgepeitschter Jungpolizist. Dann Hentschels Chef Goran Kostic, der mit ihm zur Polizeischule ging und die bürokratische Karriere zwischen Schulterklappen und Mittelbewirtschaftung wählte. Dazu gibt es ein paar Statisten, einen älteren Herrn mit Dackel, der dem Sozialismus wehmütig hinterherschaut, ein Assistenzarzt, der sich das alles anders vorgestellt hatte, und ein Ballon hoch über der Stadt, der eine kleine, kecke Meta-Ebene in diesen Roman bringt.
Der große Dominoeffekt
Und das alles zusammen ist so elektrisierend, ah, ich könnte wirklich tanzen. Ich mochte das Lesen dieses Romans so sehr, die Geschichte, die er erzählt, die Bilder und all die Emotionen, die er aufbaut und zusammenstürzen lässt. Da ist viel Einsamkeit und Schwermut in einer so schönen Form erzählt und viel trockene Realität und so viel wunderschöne Großstadt, traurige Großstadt, sentimentale Großstadt.
Es ist ein Roman, der von Gewalt erzählt, vom Ausrasten, aber auch von Liebe und Sehnsucht. Es geht um das Kippen von Situationen. Und es ist ein Roman der Zufälligkeiten und der Entscheidungen. Und das macht es so spannend. Eine Verkettung von Umständen, ein Stein stößt den anderen um, die gesamte Handlung ist ein großer Dominoeffekt und wird in einem treibenden Tempo erzählt, dass die Lichter der Stadt nur so funkeln.
Außerdem und in seiner Essenz ist »Außer Kontrolle« ein Thriller, ein Thriller, von dem ich mir wünsche, dass genau diese Art, diese Form wieder in den Köpfen der Leser zur Definition eines Thrillers wird. Damit das Genre eben nicht mehr nur belächelt wird, sondern man versteht, was man mit Spannung machen kann und dass man darüber nicht die Nase zu rümpfen braucht. Von dieser Art von Thriller hätte ich gerne mehr, viel mehr. Er hat den Look und das Feeling von Refns »Drive« und ist dabei stilsicher und stark und voller Berliner Seele.
Fazit: Volker Heise hat mit »Außer Kontrolle« ein Debüt geschrieben, das aus dem Stand zu einem meiner Jahreshighlights wird. Dieser Roman ist ein Thriller, der ein komprimiertes Panorama Berlins in sich trägt, mit einem eigenen Beat erzählt und mit präziser Beobachtung geschrieben wurde.
In Zahlen: Stil: 5/5 | Idee: 4/5 | Umsetzung: 5/5 | Figuren: 4/5 | Plot-Entwicklung: 5/5 | Tempo: 5/5 | Tiefe: 4/5 | Komplexität: 4/5 | Lesespaß: 5/5
Volker Heise – Außer Kontrolle
Originalausgabe
November 2017 bei Rowohlt Berlin
Hardcover | 240 Seiten | 20,00 EUR
Genre: Roman, Großstadtroman, Thriller
Reihe: Einzelband
Schauplatz: Berlin
*stöhn* Kommt auch auf den Merkzettel. 😉
Hehe, das freut mich! 🙂
Auch hier *stöhn*. Du hast mich viel zu neugierig gemacht! Wird vorgemerkt.
Wunderbar! 😀 Ist übrigens, was meine Euphorie von wegen eigener Erzählrhythmus und so angeht, ähnlich gelagert wie bei “Der weiße Affe” von Kerstin Ehmer. Der Stil ist natürlich grundverschieden, aber was den Grad der Eigenständigkeit angeht, der ist hier genauso hoch.
Von wegen Merkzettel – ist schon bei mir eingezogen. Und das nur wegen Dir! Pah!
😀
Aaaaah, da könnt ick dir knutschen! Und jetzt zittere ich, ob es dir auch so gut gefällt! 😀
*räusper* Ich schließe mich der Merkzettelfraktion an 😛
Hach, das freut mich, das Buch mag ich so gern und es ist so sehr Berlin, das muss einfach ganz viele Leser erreichen. 😀