Tom Bouman – Im Morgengrauen

Da bin ich doch ein bisschen übermütig geworden. Nachdem ich kürzlich gar nicht so schlecht damit gefahren bin, mit einem dritten Band in eine Reihe einzusteigen ohne die Vorgänger zu kennen, habe ich mir mit dieser Entscheidung bei »Im Morgengrauen« von Tom Bouman einen kleinen Bock geschossen.

Damit kein falscher Eindruck entsteht, »Im Morgengrauen« ist ein verdammt guter Kriminalroman, aber es hat den Anschein, ich hätte mir selbst einen größeren Gefallen getan, wenn ich seinen Vorgänger auch vorher gelesen hätte. Denn das tue ich nun gerade und ja, jetzt ist da mehr Kontext. Und ja, das hätte ich auch früher haben können. Also Notiz an mich selbst: Nicht das Pferd hinter den Wagen spannen.

 

Der Officer

Besagter Vorgänger hört übrigens auf den Titel »Auf der Jagd« und ist seines Zeichens das Debüt von Autor Tom Bouman und der erste Kriminalroman um Officer Henry Farrell, »Im Morgengrauen« der zweite und jüngst in deutscher Übersetzung erschienene und um den soll es hier jetzt auch gehen.

Und Officer Henry Farrell ist auch schon einer der Eckpfeiler dieses Romans, der Ich-Erzähler, der eine sehr faszinierende Distanz aufrecht hält, der den Leser kaum an sich heranlässt, der niemanden gerne an sich heranlässt, zumindest nicht an sein Innerstes, der Witwer, Ex-Soldat. Das passt perfekt zu seiner Rolle, zu seiner Figur und das bringt Autor Tom Bouman mit dieser Erzählperspektive so genial herüber, dass ich es als schriftstellerisch gänzlich unbegabter Mensch schon fast als Geniestreich empfinde, wenn man den Ich-Erzähler so einsetzt und es auch noch derart wirkungsvoll gerät.

 

Die Vermisste

Aber zu der Wirkung später noch ein paar Worte, erstmal sei kurz der Inhalt, der Kriminalfall umrissen. Es beginnt alles mit dem Verschwinden von Penny Pellings. Nach einer durchfeierten Nacht am See fehlt von ihr jede Spur, ihr Freund Kevin O’Keeffe hat einen Filmriss, erinnert sich nur dunkel und unzusammenhängend an die Ereignisse, weiß nicht einmal, wo sein Truck abgeblieben ist. Penny und Kevin leben gemeinsam in einem alten Wohnwagen an jenem See, haben Probleme mit Alkohol und Drogen, vor einem Jahr wurde ihr gemeinsames Kind einer Pflegemutter übergeben. Trübe Aussichten trotz erneuter Versuche, clean zu werden und das Sorgerecht für ihr Kind zurückzugewinnen. Jetzt ist Penny verschwunden. Und ein weiterer Toter wird aus dem See gezogen. Und das ist alles erst der Anfang.

Officer Henry Farrell setzt vieles bis alles daran, Penny Pellings zu finden, herauszufinden, was mit ihr geschehen ist. Doch jede Spur, der er nachgeht, birgt nur neue Abgründe, und die junge Mutter bleibt wie vom Erdboden verschluckt.

 

Die Provinz

Gute eineinhalb Jahre umfasst die Romanhandlung, Jahreszeiten kommen und gehen. Aus diesem langen Zeitraum und den quälend unbefriedigenden Ermittlungsergebnissen zieht »Im Morgengrauen« seine ganz eigene Spannung. Es zermürbt einem beim Lesen mit jeder Jahreszeit ein kleines bisschen mehr, was sehr großartig gemacht ist. Und gleichzeitig entsteht dabei ein sehr komplexer Fall, bei dem sich das Gefüge an Akteuren immer wieder ein wenig verschiebt und bei dessen Auflösung man am Ende das Gefühl nicht los wird, dass die Welt ein ziemlich trauriger Ort ist.

Apropos Ort! Es ist eigentlich eine grobe Verfehlung, dass ich den Schauplatz der Handlung bisher unerwähnt ließ, ist er doch ein ganz wesentlicher Faktor in diesem Roman. Wir sind in Pennsylvania, im Hinterland, dort wo Kleinstädte und Gemeinden die gesellschaftliche Infrastruktur bilden, wo die Menschen oftmals schon seit vielen Generationen leben, traditionsbewusst sind, größtenteils republikanisch bis durchaus auch regierungsfeindlich. Wo es Verlierer gibt und Gewinner, wahlweise durch den Frackingboom oder den Drogenhandel. Und in einer dieser kleinen Gemeinden, in Wild Thyme in Holebrook County, besetzt Officer Henry Farrell eine Ein-Mann-Polizeistation.

 

Das Schreckgespenst

Das alles bringt ansich schon eine ganz eigene Dynamik in einen Kriminalroman, erreicht aber bei einem Autor wie Tom Bouman noch einmal eine ganz andere Ebene. Denn er benutzt die örtlichen Gegebenheiten nicht nur als Bühne, sondern er bildet sie tatsächlich selbst ab, mit seinen Figuren und deren Leben in dieser Region des Landes. Die hügelige und waldige Landschaft Pennsylvanias bekommt dabei mitunter eine fast traumwandlerische Schönheit, gleichzeitig ist der Mensch oder zumindest ein Teil von seinem Wesen das Schreckgespenst, das dort herumgeistert.

Und über allem liegt während der gesamten Handlung eine sehr ruhige, bedrohliche Grundstimmung, die unglaublich einnehmend und faszinierend ist. Wie zäher Nebel macht sie alles ein wenig kälter und fast schon nihilistisch und verschwiegen und zwielichtig. Eine geniale Atmosphäre, die ich an diesem Roman wirklich herausragend fand.

Tom Bouman macht hier einfach großartige Kriminalliteratur, moderne Kriminalliteratur des 21. Jahrhunderts. Er nimmt sich die klassischen Bausteine, ein Verbrechen, einen Ermittler und die Suche nach dem Täter und formt daraus dann etwas, das relevant und ungeschönt ein Stück unserer Zeit und unserer Gesellschaft abbildet. Bouman erzählt eingängig und mit dieser bedrohlichen und verschwiegenen Stimmung, er setzt den Menschen und sein Umfeld in eine Art Komplizenschaft, das funktioniert einfach sehr sehr gut und liest sich auch so. Noch besser, wenn man den Vorgänger kennt, weshalb meine Empfehlung hier definitiv noch den ersten Band mit einschließt.

 


© Ars Vivendi Verlag
Tom Bouman – Im Morgengrauen

Originalausgabe »Fateful Mornings« (2017)

übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Anke Caroline Burger und Anna-Christin Kramer

Juni 2018 im ars vivendi Verlag

Hardcover | 320 Seiten | 22,00 EUR

Genre: Kriminalroman

Reihe: Officer Henry Farrell #2

Schauplatz: Pennsylvania/USA

 

 

 

Die Romane mit Officer Henry Farrell im Überblick:

#1
#2

9 Kommentare zu “Tom Bouman – Im Morgengrauen

  • 11. September 2018 at 12:51
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    “Und über allem liegt während der gesamten Handlung eine sehr ruhige, bedrohliche Grundstimmung, die unglaublich einnehmend und faszinierend ist. Wie zäher Nebel macht sie alles ein wenig kälter und fast schon nihilistisch und verschwiegen und zwielichtig. Eine geniale Atmosphäre, die ich an diesem Roman wirklich herausragend fand.”

    Würd ich das Buch nicht eh kaufen, spätestens hiermit hätteste mich gekriegt. 🙂 – “Auf der Jagd” wartet (wie so viel 🙁 ) bei mir noch im Regal. Die Besprechungen waren da ja eher zurückhaltend. Bin deshalb auf Deine Meinung sehr gespannt, weil wir doch – wie übrigens auch Gunnar und Christina – sehr oft auf einer Wellenlänge funken.

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    • 11. September 2018 at 15:35
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      Das stimmt, in dem kleinen Quartett finde ich auch immer viele Gemeinsamkeiten und ähnliche Vorlieben. 🙂 Bei “Auf der Jagd” hatte ich gar nicht so richtig viele Besprechungen mitbekommen und auch zu “Im Morgengrauen” gab es noch nicht so viel zu lesen, oder habe ich da etwas wesentliches übersehen? Jedenfalls bin ich dadurch recht unbedarft ans Lesen herangegangen. Einziges Manko war halt wirklich, nicht mit dem ersten Band begonnen zu haben. Wenn ich “Auf der Jagd” durchhabe, gebe ich gern nochmal hier kurz Rückmeldung, aber bisher finde ich es wirklich gut. Er hat es irgendwie drauf, das ländliche Pennsylvania und die Menschen dort abzubilden. Es ist ruhig, das schon, und wie gesagt auch eigentlich mit dem klassischen Muster eines Ermittlers, der ein Verbrechen aufklärt, aber ich finde, wie er das anpackt und vor allem, was er drumherum packt und wie, das hat was und das passt für mich irgendwie zu den ganzen amerikanischen kriminalliterarischen “Chronisten”, die gerade so ein bisschen ins Land reinhorchen und die Gesellschaft abbilden. Wenn man an dem Thema interessiert ist, dann sollte man Tom Bouman auf der Liste haben. Vielleicht nicht wegen besonders spektakulärer Crime-Szenen, aber auf jeden Fall wegen diesem speziellen Feeling und der Aktualiät in Hinblick auf die Gesellschaft und dem Blick ins Landesinnere.

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      • 12. September 2018 at 12:00
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        Was ja genau das ist, was ich gerne mag. Crime geht für mich ja seit jeher über die Suspense hinaus, gerade das macht das Genre so interessant und vielschichtig. Der Krimi kann alle Gesellschaftsschichten durchdringen und auch alle Veränderungen abbilden – und dabei unterhaltsam sein, weil er halt über das bloße Mahnen und Moralisieren hinaus geht. Wenn das noch ein Schuss lokale Atmosphäre oder Milieu drinsteckt, perfekt.

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        • 14. September 2018 at 8:58
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          Ganz deiner Meinung, genau das sage ich auch immer, wenn ich Leuten erklären muss, warum denn Kriminalliteratur. 😀

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  • 11. September 2018 at 21:00
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    Sehr gelungene Rezension. Mir gefiel der Roman auch gut aufgrund des Settings, der Figuren und der von dir beschriebenen Atmosphäre. Ein moderner Kriminalroman fürwahr, aber er funktioniert auch als Gesellschaftsroman.

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    • 12. September 2018 at 9:04
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      Vielen Dank, das freut mich, gerade weil Du den Roman ja auch schon gelesen hast. Ich glaube, für mich geht das Hand in Hand, also ein modernen Kriminalroman ist irgendwie auch immer ein Gesellschaftsroman. Im besten Fall.

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  • 12. September 2018 at 8:19
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    Puh… ok, ok. Dann pack ich mir Tom Bouman wohl auch noch ins Regal. Da kann ich ja jetzt fast gar nicht anders – aber natürlich mit dem ersten Teil.
    Danke für die – wie immer – wunderbare Rezension!

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    • 12. September 2018 at 9:06
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      Danke! 🙂 Lohnt auf jeden Fall des Blickes, denke ich, ist ein spannender Autor und ich bin neugierig, was da eventuell noch so nachkommt!

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