Mit Anfang Zwanzig verübte Gerry Fegan seinen ersten Mord für die IRA. Elf weitere folgten. Insgesamt zwölf Menschenleben beendete Fegan während des Nordirlandkonfliktes. An jedes einzelne erinnert er sich. Das ist ganz leicht. Denn die Geister der Toten begleiten ihn.
Die toten Seelen
Das mag man metaphorisch verstehen, der Psychologe während Fegans Zeit im Gefängnis nannte es eine Manifestation seiner Schuld, doch für Gerry sind sie real, sie stehen um ihn herum, stumm, strafend, schreiend. Seit sieben Jahren ist Fegan raus aus dem Knast, aber frei ist er nicht, nicht von seiner Schuld und nicht von seiner Vergangenheit.
Denn die Schatten der Vergangenheit haben für Gerry Fegan Gestalt angenommen, die Gestalt seiner Opfer. Und sie gehen nicht weg, selbst wenn er sie anbrüllt. Sie lassen ihn nicht schlafen. Weil sie Vergeltung wollen, weil sie wollen, dass die Menschen sterben, die für ihren Tod mitverantwortlich sind.
Und so sehen seine ehemaligen Kameraden nur einen müden und trinkenden Mann am Tresen sitzen, der wirr mit sich selbst redet. Scheinbar verliert er langsam den Verstand. Und das tut er. Vor Schuld, vor Scham und vor Reue. Gerrys zwölf Begleiter sind der Inbegriff seiner Schuldgefühle und sie werden ihn nicht eher in Ruhe lassen, ehe er sich dieses Mal für sie einsetzt.
Herr und Knecht
Also beginnt Gerry Fegan, seine Toten und sich selbst zu erlösen. Als erstes wird Michael McKenna sterben müssen, ein alter Freund, jetzt ein gut frisierter und gut gebräunter Politiker mit begradigten Zähnen, aber nach wie vor schiefer Moral. Was Fegan zupasskommt, vermutet die Polizei doch zunächst Streitigkeiten mit litauischen Mädchenhändlern hinter dem Mord.
Dennoch sorgt McKennas Ableben für Unruhe in allen Reihen, die politische Neuordnung in Belfast ist noch anfällig für Destabilisierungen. Die Briten werden nervös, das nordirische Parlament wird nervös, die ersten abtrünnigen Republikaner reiben sich bereits die Hände.
Aber Gerry Fegan interessiert sich nicht für Politik und so viel Kalkül liegt seinen Morden gar nicht zu Grunde. Als klammere er die Welt um sich herum aus, folgt er einem Countdown, den die Geister der Toten ihm vorgeben. Es müssen noch einige Männer sterben, bevor er Ruhe zu finden glaubt.
Krieg und Frieden
Stuart Neville erzählt aus dieser Situation heraus eine Geschichte, deren markante Plotidee ich sehr faszinierend umgesetzt finde. Der Roman zieht aus diesem Bild der formgewordenen Schuldgefühle, aus diesen Trugbildern, die Gerry begleiten, eine ganz besondere Stimmung, eine sehr dringliche und intensive.
Und das Konzept von Schuld und Sühne, von der Metapher der Heimsuchung und des plagenden Gewissens, von Erlösung und Vergebung, das weist durchaus eine religiöse Eigentümlichkeit auf. Immerhin, Gerry Fegan wuchs in einem katholischen Haushalt auf. Das spielt aber tendenziell eine eher untergeordnete Rolle, wird nicht hauptsächlich thematisiert, wobei es natürlich zum Nordirlandkonflikt dazu gehört, sodass ich diese Lesart als eine sehr spannende, aber nicht als die dominierende empfand.
Vielmehr ist »Die Schatten von Belfast« dann eine sehr ernste Auseinandersetzung mit dem Nordirlandkonflikt und der Situation danach. Neville verhandelt zum einen die Auswirkungen von Gewalt und Terror auf die Menschen, er thematisiert die politischen Geschäfte, die Manipulation und den Opportunismus, die Instrumentalisierung der Medien und das Marionettenspiel mit Menschenleben.
Zum anderen schaut er auch auf die komplexe Situation des Friedens, die Generationenschwelle und den Wechsel aus jahrzehntelangen alltäglichen Ausschreitungen und Gefechten in eine friedliche Ordnung. Gerade dieser Punkt ist sehr interessant und von Neville gut angepackt, da er weder sentimental noch verklärt Freiheitskämpfe stilisiert, sondern ganz klar und realistisch die Gewalt, die alles, auch und vor allem die Menschen, zerstört, in den Fokus stellt.
Schuld und Sühne
So gesehen ist dieser Roman letztlich eine Studie über das Töten, über das Morden und was es mit den Menschen macht. Gerry Fegans Kampf gegen alte Dämonen ist dabei die zentrale Geschichte, eine, die sehr schmerzlich einen Kreislauf, eine Spirale aus Gewalt aufzeigt.
Dabei kreuzt Fegan auch die Wege anderer, den eines britischen Undercover-Agenten, der selbst schon viel zu lange im Einsatz ist, einer in Ungnade gefallenen, jungen Mutter, die um ihr Recht auf ein Zuhause kämpft und eines alten Anführers der Paramilitärs, der auf dem Land und unter dem Schutz zwielichtiger Parteifreunde seinen illegalen Geschäften nachgeht.
Das verdichtet sich am Ende alles von einem anfangs doch durch einen sehr eigenen Rhythmus geprägten zu einem fast schon klassischen Thriller, der trotzdem außergewöhnlich bleibt in seiner Plotidee und den ich insgesamt sehr großartig fand.
Denn die Art und Weise, wie Stuart Neville mit seiner Figur Gerry Fegan das Thema Schuld angeht und wie er die Folgen des Nordirlandskonfliktes auf die Menschen ergründet, hat hier eine ganz besondere Form und ist ohne sich damit zu brüsten auf eine Art traurig und gleichzeitig besonnen und erhellend und klug in all den Ansätzen, die hier verfolgt werden. »Die Schatten von Belfast« ist ein Roman, der wie kein anderer so klar die Beziehung von Gewalt und Gegengewalt aufzeigt.
Stuart Neville – Die Schatten von Belfast
Originalausgabe »The Twelve« (2009)
übersetzt von Armin Gontermann
August 2012 im Aufbau Verlag
Taschenbuch | 448 Seiten | 9,99 EUR
Genre: Thriller
Reihe: Belfast #1
Schauplatz: Belfast
Die Besprechung erscheint im Rahmen des Blog-Spezials »Irische und nordirische Kriminalliteratur« mit Bloggerkollegin Christina von »Die dunklen Felle«.
Titelfoto in diesem Beitrag: © Christina Benedikt
Boah, wie klasse – das muss ich endlich lesen! Das schlummert nun definitiv schon zu lange in meinem SUB!!!
Au ja, das kann ich nur unterstützen und anfeuern! 😀 Mich hat der Roman auch wirklich überrascht, ich hätte vorab gar nicht damit gerechnet, dass er eine so besondere “Tiefe” hat. Sehr sehr cool. Und definitv ein Autor, von dem ich jetzt auch die restlichen Titel lesen möchte.
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@ DunklesSchaf: Ja! Lesen! Unbedingt! Gerade die ersten beiden Bände habe ich sehr, sehr geliebt. Die lohnen sich.
@ Philly: Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass ich deine Rezensionen liebe? Immer auf den Punkt, knackig, scharfsinnig, manchmal eine Portion Schnodder und immer kurzweilig. Deine Rezis waren es, die mich wieder dazu gebracht haben, erneut zum Krimi zu greifen. Wenn auch nur lesend. 😉 Danke dafür!
Und den Iren muss ich mich endlich auch mal wieder mehr widmen! *schwärm*
Nicole, das ist das Schönste, was Du mir sagen konntest! 💛 Da bekomme ich ja Wasser in den Augen. 😭 Und das will man doch gar nicht. Aber in dem Fall ist es irgendwie schön. Deshalb danke! Es ist mir eine Ehre, ganz ehrlich.
Ehre, wem Ehre gebührt. Dein Blog macht mir einfach ganz viel Spaß. Einige andere (Christina, Stefan, Peter, Gunnar) auch sehr. Aber bei dir finde ich mich am meisten wieder. Die anderen mögen mir verzeihen. 😉 Obwohl ich mir so oder so fest vorgenommen habe, bei euch allen wieder öfter zu kommentieren. Der Austausch mit euch ist schon immer sehr fein gewesen. ❤️
Das ist ein großes und sehr schönes Kompliment! Danke! Es ist so schön, wenn der Blog Spaß macht und Freude am Krimi transportiert, mehr kann ich mir nicht wünschen! 😃
Und ich kann mich nur anschließen, ich mag unsere kleine Online-Krimigemeinde auch sehr und das gemeinsame Erleben von Kriminalliteratur macht einfach richtig Spaß!
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Das klingt wirklich sehr reizvoll. Nachdem ich mich an anderer Stelle geoutet habe, dass ich von Neville noch nichts gelesen habe, muss ich die Lücke wohl mal angehen.
Ich denke, das lohnt sich unbedingt, gerade auch unter dem Aspekt der Auseinandersetzung mit dem Nordirlandkonflikt und dem “Danach”, weil auch auf politischer Ebene hier einiges verhandelt wird, das man gut auf andere, heutige Konfliktfelder übertragen kann. Auch unter dem Gesichtspunkt “Terror”. Sehr spannend, da steckt wirklich eine Menge im Text.
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