Ein Leichenfund sorgt immer für Aufregung. Und er wirft Fragen auf. Eine der dringlichsten ist die nach dem Täter, eine der ergiebigsten die nach dem Motiv. Wenn der Dahingeschiedene sich allerdings wenig Beliebtheit erfreute, ist die Reihe an potentiellen Verdächtigen lang und die Gründe für ein gewaltsam herbeigeführtes Ableben sind zahlreich. Nur gut, wenn man dann jemanden zur Hand hat, der den Überblick behält.
Der Mörder war immer der …
Eine neugierige Nachbarin zum Beispiel. Pfarrer Leonard Clement aus dem kleinen englischen Dorf St. Mary Meads kann sich da glücklich schätzen, wohnt doch die gute Miss Marple gleich nebenan. Und als in seinem Arbeitszimmer die Leiche des allseits unbeliebten Colonel Protheroe gefunden wird, erweist sich die alte Dame als aufmerksame Beobachterin. Während sich ein erster Verdächtiger freiwillig stellt, hat Miss Marple eine ganze Reihe von potentiellen Tätern auf ihrer Liste und ist gerne bei der Aufklärung des Mordes behilflich.
»Mord im Pfarrhaus« erschien 1930 und stellt den ersten von insgesamt 12 Bänden in der Reihe um die (nach der Queen) vielleicht berühmteste ältere Dame Großbritanniens dar. Miss Marple hat hier ihren ersten Romanauftritt, zuvor war es ihr aber bereits in einigen Kurzgeschichten vergönnt, ihre Nase in anderer Leute Angelegenheit zu stecken. »Mord im Pfarrhaus« wird, anders als vielleicht erwartet, nicht aus der Sicht Miss Marples erzählt, sondern hat den Pfarrer Clement als sehr tüchtigen Ich-Erzähler. Nur naheliegend eigentlich, denn immerhin wurde der Colonel in seinem Pfarrhaus erschossen. Die Ermittlungen drehen sich ganz klassisch um die Suche nach dem Mörder und auch wenn seichte psychologische Ansätze zu finden sind, gibt es hier weder Kapitel aus der Sicht des Mörders noch hat der Leser andere Hinweise als die im Roman handelnden Figuren und darf so ebenfalls rätseln, welcher der zahlreichen Verdächtigen für den Mord am Colonel in Frage kommt.
Die Kunst des Beobachtens
Miss Marple selbst agiert in ihrem ersten Roman noch recht dezent im Hintergrund, war auch ursprünglich gar nicht als dauerhafte Serienfigur geplant und prägt diesen Roman doch mit ihrer unvergleichlichen Art, den Charme einer lebensklugen Frau mit der Würde einer alten Jungfer zu verbinden. Es gibt im Dorf St. Mary Meads eine ganze Reihe von älteren Damen, die genau so tratschfreudig sind, wie es das Klischee verlangt. Und auch Miss Marple ist eine furchtbar neugierige Frau, die scheinbar nichts besseres zu tun hat, als den lieben langen Tag ihre Nachbarn zu beobachten.
Doch sie unterscheidet sich in ihren Motiven ganz wesentlich von den Klatschbasen ihres Teekränzchens: Miss Marple will nicht ihre Sensationslust stillen oder böswillige Vermutungen weitertragen, ihre Beobachtungen gibt sie stets wahrheitsgetreu und ohne pompöse Ausschmückungen wieder. Sie interessiert sich für das Wesen des Menschen, sie beobachte die Dorfgemeinschaft, als wolle sie den Menschen studieren, das ist es, was sie antreibt.
Und so darf man in Miss Marple ruhig mehr sehen als die altjüngferliche Tratschtante von nebenan und sich darauf freuen, im alten englischen Stil eine klassische »Wer war der Mörder?«-Geschichte zu lesen. Dass es hier ruhig und gediegen zugeht, muss dabei eigentlich nicht erwähnt werden, ich mache es dennoch, also, bei Miss Marple geht es gemütlich zu, Tee nehmen und sich darauf einlassen.
Fazit: Miss Marple verbindet den Charme einer lebensklugen Frau mit der Erhabenheit einer alten Jungfer, hat Augen und Ohren scheinbar überall und durchschaut so einiges. Der Leser darf in »Mord im Pfarrhaus« den Romanfiguren bei der klassischen »Wer ist der Mörder?«-Suche zusehen und ohne Eile aber mit Vergnügen diesen gemütlichen Krimi genießen.
In Zahlen: Stil: 4/5 | Idee: 3/5 | Umsetzung: 4/5 | Figuren: 5/5 | Plot-Entwicklung: 4/5 | Tempo: 4/5 | Tiefe: 3/5 | Komplexität: 4/5 | Lesespaß: 5/5
Agatha Christie – Mord im Pfarrhaus
OT: Murder At The Vicarage (1930)
übersetzt aus dem Englischen von Irmela Brender
September 2014 im Atlantik Verlag
Taschenbuch | 272 Seiten | 9,99 EUR
Genre: Kriminalroman
Reihe: Miss Marple #1
Schauplatz: England
Hallo Philly,
ja, die Miss-Marple-Krimis, die sind schon sehr besonders! Es sind schöne zeitlose Krimi-Klassiker, Cosy-Crime eben. 🙂
Liebe Grüße,
Nicole
Naja, so richtig zeitlos eigentlich nicht, man merkt ihnen den Staub der Jahrzehnte schon irgendwie an! 😉 Aber man fühlt sich beim Lesen dadurch in eine andere Zeit versetzt, andere Umgangsformen, andere Ansichten, ist schon spannend, ein kleines Zeitzeugnis. 🙂
Mit "zeitlos" habe ich eigentlich gemeint, dass sie auch jetzt noch gut zu lesen sind. Das finde ich schon besonders, wenn sich eine Reihe so lange hält.
Ah, ok, entschuldige, das habe ich dann falsch verstenden! 🙂 Für mich ist zeitlos immer etwas, das nicht an seine Zeit gebunden ist, und das ist Miss Marple in meinen Augen absolut. 😀 Aber klar, so herum kann man es natürlich auch benutzen! 😀 *sich an die Stirn hau*
Huhu, eine super Rezension!
Ich bin schon seit langem ein ganz großer Agatha Christie Fan und wollte demnächst nochmal mit der Hercule Poirot Reihe beginnen, doch jetzt hast du mich irgendwie wieder auf Miss Marple "heiß gemacht".
Ich mag diese alten Krimis so gerne. Und die kommende ekelige Herbstwetter ist genau perfekt dafür.
Alles Liebe, Nelly
Hallo Philly,
ist das Wort "cosy crime" ein Begriff vom dir oder eine Art Fachbegriff? Ich finde das nämlich richtig toll und passend für gür Agatha Christie Bücher. Ein besseres Wort als "gemütlich" gibt es kaum die Atmosphäre ihrer Romane wieder zugeben. Genau das liebe ich daran. Muss ja nicht immer detaillierten Mord und Totschlag geben. Während meines ersten "Miss Marple" Besuchs habr ich mir "Bertram's Hotel" gekauft. Ich freur mich, wenn die Zeit gekommen ist, es zu lesen.
Liebe Grüße Cindy
Das Wort ist eine gängige Bezeichnung, also leider nicht auf meinem Mist gewachsen! 😉 Steht als Unterkategorie für alle Krimis, die so ähnlich gestrickt sind, also ohne viel Gewalt, meist keine allzu tiefgreifenden Themen, gerne auf dem Land, gemächliches Tempo. Gemütlich. 😀
Dankeschön, da habe ich wieder etwas dazugelernt. 😀
Danke! 🙂 Die Romane haben schon irgenwie ihren Reiz, diese "alte" Stimmung hat was, ich mag es ganz gern und bin schon gespannt, wie mein Fazit nach allen zwölf Bänden ausfallen wird.
Perfekt! Gerne! 😀