Ian Hamilton – Die Wasserratte von Wanchai

Vielleicht habe ich eine neue kriminalliterarische Liebe in meinem Leben. Darf ich vorstellen, Ava Lee. Sie lebt in Toronto, Kanada, hat chinesische Wurzeln, arbeitet als Wirtschaftsprüferin und Geldeintreiberin. Bereist für ihre Aufträge die ganze Welt. Beherrscht eine geheime Kampfsporttechnik, die wirklich weh tut. Und sie ist klug und tough und die Effizienz in Person.

Und Protagonistin in Ian Hamiltons Roman »Die Wasserratte von Wanchai«, Auftakt zu einer Reihe, die bei uns in deutscher Übersetzung momentan nicht ganz so vorliegt, wie sich das Buchneurotiker wünschen. Band 1 und 4 sind beim Schweizer Verlag Kein & Aber als Taschenbuch erhältlich, Band 2 und 3 ebenda als eBook, die Hardcover dieser beiden Teile eventuell noch antiquarisch zu bekommen – ab Band 5 übernimmt dann jetzt ganz frisch der Berliner Verlag Krug & Schadenberg, der für das Frühjahr 2019 auch bereits den sechsten Band angekündigt hat.

 

Ein gutes Business ist die beste Kunst

Dazu dann aber später und an anderer Stelle mehr, den kürzlich veröffentlichten, fünften Band »Der schottische Bankier von Surabaya« möchte ich in einem eigenen Beitrag besprechen. Heute geht es erstmal um »Die Wasserratte von Wanchai«.

Die grobe Idee hinter der Figur Ava Lee ist eigentlich rasch erzählt. Wenn man um sein Geld, um eine beträchtliche Geldsumme, betrogen wurde, beschafft Ava Lee sie einem wieder. Sie ist die vermutlich effektivste, eleganteste und hartnäckigste Geldeintreiberin, die sich ein um beträchtliche Geldsummen Betrogener nur wünschen kann.

Im Hintergrund hält ein alter Chinese Ava den Rücken frei. »Onkel« ist eine Art Mentor, ein stiller Geschäftspartner, an Einfluss fast noch reicher als an finanziellen Mitteln, den Ava von ihren verschiedenen Destinationen aus immer anrufen und um eventuell nötige organisatorische Dienste bitten kann.

Für ihren aktuellen Klienten gilt es, rund 5 Millionen Dollar, um die ihn ein Geschäftspartner betrogen hat, zurückzuholen. Der macht in Shrimps, und wer jetzt denkt, dass man mit Shrimps und einer Steuerberaterin keinen coolen Krimi erzählen kann, muss dringend Ian Hamilton lesen.

 

Einmal um die ganze Welt …

Die Geschichte der »Wasserratte von Wanchai« beginnt in Toronto, Avas Heimatstadt. Von dort aus führt sie die Spur des Geldes und die der Betrüger über Hongkong und Bangkok nach Südamerika und in die Karibik. Die Verstrickungen will ich hier keinesfalls aufdröseln oder gar erörtern. Das entwickelt sich im Roman ganz wunderbar und viel unkomplizierter als es den Eindruck erwecken würde, wenn ich es hier umrisse. Es ist letztlich eine Geschichte um Geld und Betrug. Es geht um Auftragsfinanzierung, um Investitionen, um krumme Geschäfte in der Lebensmittelindustrie, natürlich auch um Korruption. Das ist hier sehr spannend umgesetzt, macht ungefähr ein Viertel der Handlung aus, nimmt also nicht so viel Raum ein, als dass es zu trocken geraten könnte, aber genug, um interressante Aspekte dieser Branche zu verarbeiten und dem Roman ein Thema zu geben.

Die restliche Gewichtung liegt dann auf Ava Lee als Figur, auf den Schauplätzen und auf Avas Mittel und Wege, das Geld für ihre Kunden wiederzubeschaffen. Ich war während des Lesens großer Fan der wechselnden Handlungsorte, der verschiedenen Länder, die Ava Lee bereist, um das Geld für ihren Klienten zurückzuholen. Die Metropolen Hongkong und Bangkok, dann der Kontrast zum fast vorindustriellen und armen Guyana in Südamerika. Die British Virgin Islands in der Karibik. Natürlich auch Avas Heimat Kanada.

Das wirkte in seiner Gesamtheit alles so großartig kosmopolitisch, ist je nach Region mondän oder schäbig, aber nie künstlich oder nachgebildet. Ian Hamilton hat vor meinem inneren Auge jedes Land ganz souverän greifbar werden lassen. Vom Klima bis zum Straßenbelag, da hat sich jeweils ein derart lebendiges Szenario entwickelt, Micro-Porträts der einzelnen Gegenden. Das hat mir unglaublich viel Spaß gemacht und dem Roman einen speziellen Drive gegeben.

 

Ava knows best

Die Figur der Ava Lee ist dabei nicht weniger spannend und eine fabelhafte Protagonistin. Ian Hamilton gelingt es sehr großartig, keine ihrer Eigenschaften als schmückendes Beiwerk zu inszenieren, als Exklusivität oder Accessoire, wie man es oft erlebt, wenn einer Ermittlerfigur eine besondere Fähigkeit, ein Merkmal, ein außergewöhnliches Hobby anerzählt wird. Beliebt sind da ja das Beherrschen eines Musikinstruments, ein gestörtes Sozialverhalten oder Hochbegabung.

Nein, bei Ava Lee wirkt weder ihre Intelligenz noch ihre körperliche Fitness wie Zubehör, sondern völlig selbstverständlich und verinnerlicht und ich mochte, wie sie agiert und wie man sie als Figur erlebt.

Ava Lee ist eloquent, effizient und hat etwas schon fast hoheitsvolles an sich. Sie ist kontrolliert, sie ist clever, sie ist geschickt, diplomatisch, kalkulierend. Stolz, aber nie überheblich. Unerschrocken, aber nicht furchtlos. Ian Hamilton dosiert all diese Charakterzüge sehr genau und hat damit für meinen Lesegeschmack eine absolut interessante Figur kreiert, die unaufdringlich spannend ist und vermutlich über eine lange Distanz auch spannend bleibt. Man erfährt nicht allzu viel über das, was Ava denkt, erlebt aber, wie sie arbeitet, wie sie mit Menschen umgeht, Verhandlungen mit bestechender Klarheit führt, auch illegale Mittel einsetzt, um für ihre Klienten einen Auftrag erfolgreich abzuschließen.

 

In der Ruhe …

Was abschließend dem gesamten Roman, der Handlung und der Sprache, zugrunde liegt, ist eine rationale Ruhe, die man fast schon als unspektakulär bezeichnen möchte, ohne dies aber abwertend zu meinen, ganz im Gegenteil.

Hier fügt sich das, was die Hauptfigur ausmacht, was die Charakterzeichnung bestimmt eins zu eins in den Handlungsaufbau, in den Stil des Romans und dieses Ineinandergreifen wirkt dann einfach extrem stimmig. Der Roman ist sehr fokussiert, kommt ohne verschiedene Perspektiven, Handlungsstränge oder Zeitebenen aus, sondern wird einfach sehr sauber und schnurgerade getaktet. Das funktioniert. Das passt hier extrem gut.

 

Kulturelle Einblicke

Ein weiterer interessanter Punkt an diesem Roman ist der kulturelle Hintergrund Ava Lees. Ihre chinesischen Wurzeln, ihr Aufwachsen in Kanada, ihre Mutter, die eine stolze und traditionsbewusste Chinesin ist und als Zweitfrau eines wohlhabenden chinesischen Geschäftsmannes in Toronto lebt. Das alles wird gerade zu Beginn der Handlung etwas ausführlicher erzählt und ist eine spannende Perspektive, durchaus auch erhellend und einblickreich.

Alles in allem hat mich »Die Wasserratte von Wanchai« also sehr beglückt, bereichert und gut unterhalten. Ich mochte die Darstellung der verschiedenen Schauplätze, das Reisen, fand Ava Lee als Figur faszinierend und sehr gut gezeichnet. Selbst die Nebenrollen warteten immer wieder mit spannenden Charakteren auf und auch wenn es stilistisch zu keinen außergewöhnlichen Momenten kam und ich die Sprache eher als zweckdienlich bezeichnen würde, passt gerade das eben sehr sehr gut zu der Romanidee und fügt sich deshalb auch absolut stimmig in das Gesamtbild. I like.

 


© Kein & Aber Verlag
Ian Hamilton – Die Wasserratte von Wanchai

Originalausgabe »The Water Rat of Wanchai« (2011)

übersetzt von Simone Jakob

März 2015 bei Kein & Aber

Taschenbuch | 432 Seiten | 12,00 EUR

Genre: Kriminalroman

Reihe: Ava Lee #1

Schauplätze: Toronto, Hongkong, Bangkok, Guyana, British Virgin Islands

 

 

Weitere Besprechungen zur Ava-Lee-Reihe auf diesem Blog:

Ian Hamilton – Der schottische Bankier von Surabaya (Ava Lee #5)

 

 

Die Romane um Ava Lee im Überblick:

1. Band
2. Band
3. Band
4. Band
5. Band

 

 

 

 

 

 

 

7 Kommentare zu “Ian Hamilton – Die Wasserratte von Wanchai

  • 13. November 2018 at 15:21
    Permalink

    Buchneurotiker?
    Auch psychisch gereifte Menschen lesen Krimiserien am liebsten der Reihe nach und im selben Format.
    Schöne Rezension!

    Reply
    • 13. November 2018 at 15:39
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      Danke!

      Aber dass wir uns da nicht falsch verstehen, der Buchneurotiker als Kunstbegriff ist hier absolut positiv be- und liebevoll eingesetzt und ich würde ihn keineswegs als psychisch ungereift bezeichnen wollen. 🙂

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  • 13. November 2018 at 17:40
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    Ich habe den fünften Band hier liegen.

    Hatte mich kurz schlau gemacht, wegen der restlichen Bände und lese nun erstmal Band fünf XD
    Bin sehr gespannt, wie sie mir gefällt, du machst mich auf jeden Fall extrem neugierig! Da muss ich das Buch wohl doch vorziehen in der Leseplanung 😀

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    • 13. November 2018 at 21:46
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      Ich habe Sonntag Abend auch noch meinen zweiten Ava-Lee-Roman beendet, den vierten Teil der Reihe, und wow, der war noch einmal eine Stückchen stärker. Freue mich nun auch ganz arg auf den fünften Band! Sehr geniale Figur, das sollte mal verfilmt werden. 🙂

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      • 20. November 2018 at 20:01
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        Morgen starte ich damit. Christina hat mich jetzt auch nochmal angefixt mit ihrer Kritik. Wenn das bei mir auch so positiv endet, werden die Vorgänger sicher schnell hier einziehen 😀

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        • 22. November 2018 at 16:13
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          Ich habe mir inzwischen auch Band 2 und 3 antiquarisch besorgt, das ist einfach zu gut! 😀

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