Anne Goldmann – Das größere Verbrechen

Dass ich auf die Autorin Anne Goldmann gestoßen bin, habe ich zu großen Teilen Bloggerkollegin Christina Benedikt von »Die dunklen Felle« zu verdanken. Man kann wohl mit Fug und Recht sagen, dass Christina ein großer Fan ihrer Romane ist und als ich im November des letzten Jahres dann endlich »Lichtschacht« las, wusste ich auch, warum.

Anne Goldmann hat eine ganz eigene und sehr großartige Art, Geschichten zu erzählen und eine Stimmung zu kreiieren, die dicht und oft intensiv ist, die einem ganz komisch nahe geht und sich so einschleicht, so dringlich und lauernd. Man ist sehr nah dran an ihren Figuren, an dem, was sie empfinden und wahrnehmen. Und das trifft so auch auf ihren neuen Roman »Das größere Verbrechen« zu.

 

Leben leben

In dem geht es um Theres, Ana und Frau Sudić, drei Frauen, die die Autorin sehr interessant und klug in Beziehung zueinander setzt, um ihre Geschichten zu erzählen. Theres ist eine Person, die einem vermutlich kaum auffallen würde, stünde man im Supermarkt mit ihr an der Kasse in einer Schlange.

Sie lebt ein scheinbar geregeltes Leben. Hat eine Familie, Mann, Tochter. In ihrer Rolle, die sie im Leben spielt, spürt man aber vor allem eine enorme Anspannung, und ein Unglücklichsein. Dann plötzlich passiert etwas. Ihr erstes Kind, das sie kurz nach Geburt zur Adoption freigab, meldet sich bei ihr. Es hat sie ausfindig gemacht, möchte sie kennenlernen. Theres, unsicher, zerrissen, probiert es, lässt ihren Sohn in ihr Leben.

Doch alles gerät irgendwie durcheinander und aus der Bahn und wird geradezu unwirklich, als darauffolgend der Adoptivvater des Jungen bei einem Autounfall ums Leben kommt und ihr verlorener Sohn plötzlich unter Mordverdacht steht.

 

Atmen

Frau Sudić lernt man schon zuvor in einer der stärksten Eröffnungssequenzen kennen, die ich in diesem Jahr in Romanen gelesen habe. Sie ist eine ältere und nicht mehr allzu mobile Dame, die zurückgezogen in ihrer Wohnung lebt. »Manchmal flattert mein Herz wie ein verängstigter Vogel. Dann lege ich meine Hände auf die Stelle über der Brust und warte. Meine Beine sind schwer, die Haut ist dünn und trocken wie Seidenpapier. Ich gehe nur noch selten aus dem Haus.«

Dafür sitzt sie gern im Zimmer mit weit geöffnetem Fenster, braucht die Luft. Ihre Gedanken schweifen oft ab. Und Erinnerungen, die sie nicht los wird, drängen an die Oberfläche. Der Krieg, der Anfang der 1990er ausbrach, als Jugoslawien zerfiel und der ihr Leben auf eine Art beendete, die nur schwer zu ertragen ist, verwandelt sich in bruchstückhaften Erinnerungen in ein sehr eindringliches und trauriges Dokument über Machtverhältnisse und darüber, was Frauen im Krieg erfahren müssen.

Heute sitzt Frau Sudić in ihrer Wohnung. Täglich kommt der Pflegedienst vorbei und einmal in der Woche Ana, eine junge Frau, die eigentlich auf die Kunstakademie will. Sie putzt und kauft ein, sie ist aber auch Gesellschaft für Frau Sudić. Eine ruhige Gesellschaft, die Frau Sudić, die nicht viele Menschen so erträgt, als angenehm empfindet. Auch wenn Ana augenscheinlich nicht viel dazu beiträgt.

Ana putzt auch bei Theres und ihrer Familie. Sie ist das Bindeglied. Und spielt eine sehr eigene Rolle in diesem Roman, die ich interessant und spannend fand und über die ich an nicht wenigen Stellen eine Weile nachdenken musste, was gleichzeitig bedeutet, dass die Figur wirkt.

 

Aufbrechen

Es gibt viele beklemmende Beziehungen in diesem Roman, Abhängigkeiten und bedrohlich wirkende Bindungen. Bei den meisten hat man das Gefühl, dass sie kurz davor sind, zu kippen, dass es nur ein wenig mehr braucht und eine Katastrophe könnte losgetreten werden, die viel und unwiderruflichen Schaden anrichten würde. Das trägt nicht unwesentlich zu diesem Gefühl von Anspannung bei, zu dieser lauernden Atmosphäre und der beunruhigenden Grundstimmung.

Man erlebt, wie sich die drei Frauen, Theres, Ana und Frau Sudić, mit Dingen konfrontiert sehen, die sie verdrängt haben und man erlebt dann dieses Aufbrechen, das die Figuren aus einer alltäglichen Routine bringt, die sowieso nur ein Zustand des Aushaltens war und das Leben verändert, zum Guten oder zum Schlechten, aber Veränderung aus einem Dasein bringt, das nur ein Sein, aber kein Leben war. Keine Fröhlichkeit, kein Leichtsinn, keine Unbeschwertheit. Eher eine Verbissenheit, ein unbewusstes Durchhalten. »Das größere Verbrechen« ist, offensichtlich, kein fröhlicher Roman und darin ist er unglaublich gut und stark.

 

Ungesagtes

Und was ich an diesem Roman auch mag, was ich besonders mag, ist alles, was Anne Goldmann nicht sagt, was aber da ist, was ich selber fühle, was ich selber denke, was ich mir selber denken darf und muss. Dass man mir nicht ständig vorkaut, was ich in einer Szene zu fühlen habe oder wie eine Emotion funktioniert. Subtil klingt dafür als Beschreibung viel zu verwegen und kalkuliert, zwischen den Zeilen zu allgemein und banal, es ist einfach das Ungesagte, das eine starke Präsenz hat und hier so gut auf die Geschichte passt.

Gleichzeitig funktioniert das so gut durch das, was Anne Goldmann sagt, wie sie erzählt und wie sie beschreibt. Sehr präzise. In vielen kurzen Sätzen steckt viel Wucht. Sie umreißt Szenen und Situationen sehr klar und wesentlich, da ist dann wieder diese Balance zwischen Gesagtem und Ungesagtem. Dann ist hier auch einfach von der Erzählstruktur her vieles fragmentartig und sprunghaft, nicht nur im Wechsel zwischen den drei Frauen, sondern auch innerhalb ihrer Perspektiven und ich fand gerade diesen Umgang und den Einsatz der Figuren sehr spannend. Manche Geschichte ist variabel, manche bleibt vage.

Anne Goldmanns Stil ist ein leiser Tanz aus der Reihe und »Das größere Verbrechen« thematisch wohl gewählt. Ich schätze die Autorin sehr für ihre eigene Art, Kriminalliteratur zu interpretieren.

 

 


© Ariadne bei Argument
Anne Goldmann – Das größere Verbrechen

Originalausgabe

August 2018 bei Ariadne Krimis (Argument Verlag)

Taschenbuch | 235 Seiten | 13,00 EUR

Genre: Roman, Kriminalroman, Spannungsroman

Reihe: Einzelband

Schauplatz: Wien

 

 

 

 

Weitere Besprechungen zu »Das größere Verbrechen« u.a. bei:

Die dunklen Felle: »Es ist eine leise und bedrohliche Atmosphäre, die ihr immer wieder gelingt, die diesmal jedoch um ein so wichtiges Thema erweitert wurde, …«

außerdem auf »Die dunklen Felle« zu finden, ein tolles Interview vom Oktober 2018: »Interview mit der Meisterin des Spannungsromans: Anne Goldmann«

 

 

Weitere Besprechungen zu Romanen von Anne Goldmann auf diesem Blog:

Anne Goldmann – Lichtschacht

 

 

5 Kommentare zu “Anne Goldmann – Das größere Verbrechen

  • Pingback: Anne Goldmann - Lichtschacht

  • 6. Dezember 2018 at 16:09
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    Wie wundervoll beschrieben – das ist genau das, was ich an Anne Goldmanns Büchern so liebe! Ich freu mich, dass Dir der Krimi so gut wie mir gefallen hat und bedanke mich herlich für das Verlinken! Ich hab grad nochmal nachsehen müssen, das Interview war ja erst im Oktober! Es fühlt sich an, als wäre das schon länger her, aber es ist wieder ganz frisch, wenn ich jetzt wieder reinlinse.

    Reply
    • 6. Dezember 2018 at 16:49
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      Das Interview ist wirklich großartig, ich hatte es Anfang der Woche endlich in Ruhe gelesen und werd da auch noch kommentieren kommen, es ist wirklich wie immer einfach ein neuer, spannender Blick auf Buch und Autorin.

      Mir kommt es so vor, als hätte gestern erst der Oktober begonnen und nun schon der Dezember im vollen Gange. Meine Güte!

      Vielen vielen Dank! 🙂

      Reply
  • 9. Dezember 2018 at 12:21
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    Huhu!

    Ich glaube, mit der Autorin muss ich mich dringend auch mal beschäftigen, das klingt genau nach meinem Geschmack! Ich habe mir jetzt mal “Lichtschacht” runtergeladen, ich habe ein Abo bei Legimi und die haben ein paar ihrer Bücher. 🙂

    Ich habe dich für den “Winter Weihnachts TAG” getaggt:
    https://wordpress.mikkaliest.de/2018/12/09/winter-weihnachts-tag/

    Nur wenn du Lust und Zeit hast, natürlich! 🙂

    LG,
    Mikka

    Reply
    • 10. Dezember 2018 at 11:18
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      Hi Mikka!

      Das freut mich, ja, “Lichtschacht” ist eine tolle Wahl, viel Spaß damit, ich bin gespannt, wie es Dir am Ende gefällt! 🙂

      Und vielen Dank fürs Taggen, aber Tags und ich, das geht sich irgendwie nicht aus. Und Weihnachten auch nicht. Herrje, ich alter Grinch! 😀

      Liebe Grüße!

      Reply

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