Philip K. Dick – Der dunkle Schirm

Es ist gar nicht so einfach, meine Eindrücke zu Philip K. Dicks Roman »Der dunkle Schirm« mit Worten zu fixieren. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich den Roman in all seiner Tiefe durchdrungen habe. Im Zweifel ist die Antwort ein klares Nein. Ich denke, mir fehlte ein Gesamtgefühl für die Thematik, die Zeit und die Umstände, die für den Roman eine wichtige Rolle spielen. Aber dennoch bearbeitet der Roman sein Thema mit einer sehr emotionalen Hingabe, die es mir unmöglich machte, den Roman nicht zu schätzen.

 

War on drugs

Worum geht es in »Der dunkle Schirm«? Im Grunde und erstmal oberflächlich betrachtet um Fred, einen Agenten der Drogenfahndung, der in seiner Tarnidentität als Dealer Robert Arctor für die Polizei in Los Angeles verdeckt ermittelt. Wir sind auch gar nicht so weit in der Zukunft. 1977 erschienen, spielt der Roman im Sommer 1994 in Kalifornien.

Ein paar technische Spielereien verleihen der Geschichte einen Science-Fiction-Touch. Der beispielsweise sehr klug erdachte Jedermann-Anzug trägt im Wesentlichen zur Wahrung der Geheimidentitäten der Drogenermittler bei. Einkaufszentren sind umzäunt und können nur noch mit einer gültigen Kreditkarte betreten werden. Im Großen und Ganzen aber könnte man auch einen Vorläufer Don Winslows lesen, thematisch, nicht stilistisch.

Denn Drogen beziehunsgweise der Krieg gegen die Drogen, der seit 1972 durch Richard Nixon unter dem Banner des »war on drugs« mit erheblichen innenpolitischen Maßnahmen begann, die Gründung der DEA (Strafverfolgungsbehörde für Drogendelikte) 1973 zur Folge hatte und teilweise obskure Ausmaße annahm und bis heute weithin umstritten ist, bilden einen Teil des Hintergrunds von »Der dunkle Schirm«.

 

Substanz T

In diesem L.A. der nahen Zukunft hat die Droge »Substanz T« den Markt übernommen, der langsame Tod, so ihr Beiname. Gewonnen wird sie aus einer Pflanze namens »Mors ontologica«, Tod der Seele. Wo diese angebaut wird, wer sie anbaut und vertreibt, diesen Fragen nachzugehen ist ein wesentlicher Teil der Arbeit von Undercover-Ermittler Fred alias Robert Arctor. Über ihn will die Polizei an die Hintermänner gelangen.

Fred assimiliert sich dafür vollständig in einem sozialen Umfeld von Drogenabhängigen. Er lebt mit ihnen in einem heruntergekommenen Haus, freundet sich an, verliebt sich, nimmt Substanz T. Und verliert sich nach und nach und mehr und mehr in dieser Welt.

Irgendwann fällt es ihm schwer, seine beiden Identitäten auseinanderzuhalten. Wer ist er wirklich? Ist er Fred, der Drogenermittler? Oder Robert Arctor, der drogenabhängige Dealer? Unter dem Einfluss der Substanz T schreitet sein mentaler Verfall immer stärker fort. Und so ist »Der dunkle Schirm« vor allem auch ein Roman über den Verlust von Identität, von sich selbst, unter dem Einfluss von bewusstseinsverändernden Substanzen. Aber auch unter dem Einsatz von Undercovereinsätzen, was beispielsweise in der Kriminalliteratur häufig thematisiert wird.

 

Unter der Oberfläche

Vom Gefühl her hat der Roman einen gewaltigen Subtext, der sich mir aber nicht gänzlich erschlossen hat. Ich habe quasi nur die Oberfläche gesehen. Die spiegelt zwar immer noch einen gut gemachten und gerade am Ende sehr erhellenden Roman wieder. Aber besonders im Mittelteil, in dem sich etliche Szenen und Dialoge gefühlt endlos hinziehen, die für die rein motorische Handlung letztlich belanglos und austauschbar sind, fehlte bei mir der Draht zum Text um zu erkennen, was mir der Künstler damit sagen möchte.

Dabei schreibt Philip K. Dick hier keineswegs so abstrakt oder realitätssprengend, wie man es seinen Werken oft nachsagt. »Der dunkle Schirm« ist ansich völlig geradlinig und fast schon monoton, eine Art Drogen-Krimi mit einigen Science-Fiction-Elementen. Aber er ist in seiner Kritik sehr stark in seiner Entstehungszeit Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre in den USA verwurzelt. Und auch wenn die groben geschichtlichen Eckdaten soweit klar sind, fehlte mir das Gefühl für diese Zeit. Nicht, weil es der Autor nicht vermitteln konnte, sondern weil ich es nicht mitgebracht habe. Ich kann die inhaltliche Bedeutung nicht richtig in den Kontext setzen, weil ich keinen Bezug dazu habe.

Man kann zwar vieles davon auch auf die heutige Zeit projizieren, gerade als Leser von Kriminalliteratur kommt einem Philip K. Dicks Szenario geradezu vertraut vor, und dennoch, ich habe nicht das Gefühl, auch nur annähernd zum Kern des Romans vorgedrungen zu sein.

Vielleicht nicht das größte Kompliment, das man einem Autor machen kann, aber auch keine Kritik, schließlich sollte es nicht der alleinige Anspruch von Literatur sein, möglichst zugänglich zu sein. Mich hat der Roman dennoch fasziniert. Und besonders das Nachwort des Autors und das zweite Nachwort des Journalisten und Publizisten Christian Gasser haben mir noch einmal eine andere Ebene des Zugangs ermöglicht und mir eine bessere Einordnung gestattet, wofür ich Herrn Gasser und auch den Machern der Fischer Klassik-Reihe sehr dankbar bin. »Der dunkle Schirm« war meine erste literarische Begegnung mit Philip K. Dick, es wird aber nicht mein letzer Versuch gewesen sein, diesen interessanten Autor zu verstehen.

 

Ist das dystopische Literatur?

Zwei Dinge müssen aber der Vollständigkeit halber noch Erwähnung finden. Weithin bekannt und auch im Nachwort noch einmal ausgeführt wird Philip K. Dicks autobiografischer Bezug zu diesem Roman, nahm er doch selbst über einen langen Zeitraum verschiedene Drogen ein und findet in der Nachbemerkung einige sehr persönliche Worte für die Freunde, die er an die Folgen des Drogenkonsums verlor.

Und, da diese Besprechung im Rahmen des Blog-Spezials »Dystopische Literatur« erscheint, stellte sich mir beim Lesen hier ganz besonders die Frage, ob der Roman in diesem Kontext überhaupt richtig aufgehoben ist. Je länger ich darüber nachdenke, umso weniger komme ich auf einen grünen Zweig. Die Lektüre macht es einem nicht ganz leicht, denn sie lässt nicht auf Anhieb erkennen, ob man sich einfach nur in einem Mikrokosmos von Figuren bewegt, der wahlweise aus Drogenermittlern oder Abhängigen besteht, oder ob es sich tatsächlich um eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung handelt.

Andererseits bin ich auch kein Freund davon, wenn man den Begriff der Kriminalliteratur zu eng fasst und dadurch Romane entweder degradiert oder überhöht. Insofern, ja, »Der dunkle Schirm« hat dystopische Elemente. Und nein, er ist keine lupenreine Dystopie mit einem präsenten, totalitären Staat, wobei diese Rolle in gewisser Weise eine andere Institution übernimmt. Und wieder ja, er entwirft in Hinblick auf die Entwicklung der Drogenpolitik ein düsteres Zukunftsszenario. Insofern, was auch immer der Roman ist oder nicht ist, in diesem Blog-Spezial ist er gut aufgehoben.

In Zahlen: Stil: 3/5 | Idee: 5/5 | Umsetzung: 3/5 | Figuren: 3/5 | Plot-Entwicklung: 2/5 | Tempo: 2/5 | Tiefe: 5/5 | Komplexität: 4/5 | Lesespaß: 3/5

 


© Fischer Klassik
Philip K. Dick – Der dunkle Schirm

Originalausgabe »A Scanner Darkly« (1977)

übersetzt aus dem Englischen von Karl-Ulrich Burgdorf

September 2014 bei Fischer Klassik

Taschenbuch | 336 Seiten | 11,00 EUR

Genre: Science-Fiction, Dystopie

Reihe: Einzelband

Schauplatz: Kalifornien/USA

 

 

Die Besprechung erscheint im Rahmen des Blog-Spezials »Dystopische Literatur« mit Bloggerkollegin Christina von »Die dunklen Felle«.

 

 

8 Kommentare zu “Philip K. Dick – Der dunkle Schirm

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  • 14. Februar 2018 at 22:26
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    Nur weil Du es erwähnst: ist denn der totalitäre Staat eines der Kriterien, mit denen Du eine Dystopie umschreiben würdest? Ich hadere damit ein wenig.
    Es gibt schon viele Beispiele, in denen dies so ist und in unserem Jahrhundert, in unserer Zeit ist das vermutlich die größte Angst. Aber ich hab das tatsächlich in den Dystopien, die ich für unser Spezial lese bisher wenig vorgefunden, auch wenn natürlich die Vorzeigebücher von Huxley und Orwell dafür sprechen.

    Ok, bei “Clockwork Orange” bin ich eh schon ein wenig unschlüssig, ob es zur dystopischen Literatur zählt, bei “Wir” – keine Frage, da haben wir den totalitären Staat. Aber bei “Die Maschine steht still” – gibt es den dort auch? Es scheint mir ja eher die Maschine alles zu regeln und keiner hält einen davon ab, aus dem Raum zu gehen und z. B. an die Oberfläche, also keine Regierung oder totalitäre Macht. Auch bei “Oryx und Crake” fehlt – zumindest bisher, ist ja erst Teil 1 – der totalitäre Staat oder auch bei “Die Straße”, wobei ich hier fast für das Subgenre “Endzeit” plädiere… ach, ich bin ja schon sehr gespannt, wie unsere Fazits aussehen. Ich fürchte, das wird wachsweich, denn so richtig eingrenzen geht, glaub ich gar nicht. Was ja auch irgendwie was schönes hat – wer braucht schon Grenzen?
    🙂

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    • 14. Februar 2018 at 23:05
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      Ich fange mal unten an und arbeite mich dann hoch. 🙂

      Ja, nee, ich finde Genre gut um Gemeinsamkeiten zu diskutieren, nicht um Grenzen zu ziehen. Insofern spricht es ja durchaus für ein Werk oder ein Genre, wenn es sich nicht allzu starr verhält. So ein bisschen einordnen und kategorisieren findet mein innerer Monk aber auch klasse. Aber wie gesagt, mehr um Gemeinsamkeiten zu finden und nicht um Schubladen zu bedienen.

      Bei “Die Maschine steht still” würde ich sagen, dass die Maschine die Funktion des totalitären Staates einnimmt. Es existiert dort ja auch die Gleichschaltung, es gibt Sanktionen, wenn man sich maschinenfeindlich äußert.

      Was dann schon zu der Frage führt, ob der totalitäre Staat ein Wesensmerkmal einer Dystopie für mich ist. Hm. Ja. In gewisser Weise. Aber nicht ausschließlich. Eher vielleicht das Totalitäre verkörpert durch eine Institution, sei es eine Regierung, eine Technologie, ein Konzern, ein Symbol für die Unterdrückung vieler durch wenige. Und die Folgen eines totalitären Regimes auf die Gesellschaft. Also Gleichschaltung, Abwesenheit von Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Das wäre für mich schon ein Kriterium, das sicherlich je nach Roman anders gewichtet ist oder in anderer Gestalt auftreten kann.

      Ja, stimmt schon, “Die Straße” geht tendenziell nach dem, was das Genre sonst so absteckt, eher in Richtung Endzeit. Wobei ich die Entwicklung der Menschen in “die Bösen, die das Licht in sich nicht bewahren konnten” (du weißt, was ich meine, oder? ich will jetzt hier in den Kommentaren nicht so arg spoilern) schon insofern als dystopisch bezeichnen würde, als dass ja auch hier geschaut wird, wie entwickelt sich unsere Gesellschaft im schlimmsten Fall in so einem Szenario. Ich denke, dieser Faktor, also der Blick auf die Frage, wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft in einer dieser im Roman fest beschriebenen Zukunft, ist für mich noch so ein Eckpfeiler.

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  • 17. Februar 2018 at 21:06
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    Ich hab bislang nur “Irrgarten des Todes” von dem Autor gelesen und fand die Geschichte sehr gut! Auch mit diesem Titel liebäugle ich schon länger, denn die Thematik reizt mich sehr! Ich hoffe ich werde besser ab- bzw. eintauchen können

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    • 18. Februar 2018 at 17:43
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      Ja, mich hat die Thematik auch lange gereizt und in seiner Idee auch wirklich überzeugt, ich habe nur für die Zeit der 70er und den Drogenkonsum nicht so richtig ein Gefühl, sodass ich einfach den Eindruck hatte, dass Philip K. Dick hier noch viel viel mehr sagt als ich in der Lage bin zu verstehen.

      Ich will mir als nächstes “Eine andere Welt” und “Blade Runner” sowie einen Kurzgeschichtenband von ihm vornehmen. 🙂

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