Margaret Atwood – Der Report der Magd

»Der Report der Magd« erzählt von einer Zukunft, in der ein totalitäres, religiös-fundamentalistisches Regime den Frauen sämtliche Rechte abgesprochen hat, in der atomare Verseuchung und Krankheiten zur Unfruchtbarkeit der Bevölkerung geführt haben und in der die noch fruchtbaren Frauen dazu verdammt sind zu gebären, für den Erhalt und den Aufbau der Republik Gilead.

 

Die Republik Gilead

Auf dem Gebiet der ehemaligen Vereinigten Staaten von Amerika hat sich in einer nicht allzu fernen Zukunft eine strenge Diktatur etabliert. Man erfährt bruchstückhaft, aber nicht schwerpunktmäßig den Hergang der Ereignisse. Man liest, dass der Präsident ermordet, die Verfassung außer Kraft gesetzt wurde, dass eines Tages die Bankkonten aller weiblichen Bürger gesperrt, dann per Gesetz alle Frauen aus ihren Jobs entlassen wurden. Entrechtung Stück für Stück.

Erst gab es Krieg, dann Überwachung und Kontrolle. Naturkatastrophen, die zu atomaren Unfällen und Verseuchungen führten, Krankheiten. Ein Großteil der Bewohner Gileads ist unfruchtbar.

Recht und Ethik, wie wir sie kennen, existieren nicht mehr, wurden unterwandert und abgeschafft von einem religiös-motivierten System, in dem es keine Wissenschaft mehr gibt, in dem Frauen lesen und schreiben verboten ist. In dem es wieder öffentliche Hinrichtungen gibt. In dem es keine Freiheit und keine Selbstbestimmung mehr gibt.

Frauen sind in dieser Welt in einem kastenähnlichen System eingeordnet. Sie haben nur dann einen Nutzen, wenn sie dienen oder gebären. Neben den ranghöchsten Ehefrauen gibt es in der Hauptsache die gebärenden Mädge, die hauswirtschaffenden Marthas und die Unfrauen, die in den Kolonien bei der Entsorgung von Giftmüll den Tod oder in der Arbeit auf den Plantagen die Versklavung finden.

 

Gesegnet sei die Frucht

In all diesem lebt Desfred, die Magd, die diese Geschichte erzählt. Die noch das normale Leben kennt, die einen Mann und ein Kind hatte, einen Job, ein Bankkonto. Und einen Namen. Heute ist sie nur noch Desfred, die Magd des Kommandanten Fred und dessen Ehefrau Serena Joy. Sie lebt in einem kleinen, kargen Zimmer in deren Haushalt. Desfred wurde nach dem Umbruch und der Errichtung der Republik Gilead in ein Umerziehungsheim gebracht, in dem die noch fruchtbaren Frauen indoktriniert und auf ihre neue Rolle als Gebärmaschinen vorbereitet wurden.

Ihre Aufgabe ist es nun, in ausgewählten Kommandantenhaushalten zu leben, so lange, bis sie der Hausherr – im Rahmen einer monatlich stattfindenden Zeremonie und in Anwesenheit der Ehefrau – geschwängert und sie dem Ehepaar ein gesundes Kind geboren hat. Nur geht es gar nicht um den Menschen, der da gezeugt wird, es geht um Nachkommen, um einen Faktor, um den Reproduktionsfaktor, um die reine Vermehrung, die Machtzuwachs für den Staat bedeutet.

Desfred wird als ein reiner Reproduktionsorganismus angesehen, nicht mehr. So wertvoll ihr Uterus für die Republik Gilead auch ist, so wenig zählt ihr Dasein als menschliches Wesen.

 

Machtlos

Der Autorin Margaret Atwood gelingt es ihrem 1985 erschienenen Roman sehr beeindruckend, dies alles herauszuarbeiten, den Verlust von jeglicher Form von dem, was eine Gesellschaft als wert in ihr zu leben definiert. Und das, obwohl weitgehend auf starke Emotionen seitens der Hautpfigur verzichtet wird.

Desfred erscheint seltsam fügsam, taub. In ihren Berichten aus den Zeiten des Umbruchs und der Umerziehung gibt es von ihr kaum Phasen ernstlicher Rebellion, des Aufbegehrens oder Ankämpfens. Empörung ja, Frustration. Auch ein Fluchtversuch über die Grenze nach Kanada, der scheitert. Doch insgesamt reagiert sie nicht so stark, wie man es erwarten würde. Das irritiert durchaus. Das zeichnet den Charakter der Figur aber auch als interessant aus, Desfred ist in diesem Roman keine Heldin.

Mich beschäftigte während des Lesens immer wieder die Frage, ob man sich nicht schreiend und tretend gegen so ein Schicksal wehren müsste. Würde man sich nicht mit Händen und Füßen dagegen wehren, sich in diese Rolle zu ergeben? Würde man? Genaugenommen obliegt den verbliebenen fruchtbaren Frauen in dieser Welt der mangelnden Zeugungsfähigkeit die komplette Macht. Doch sie nutzen sie nicht.

 

Alttestamentarisch

Mir fiel es teilweise schwer, mich in dieses Szenario hineinzudenken. »Der Report der Magd« ist eine Zukunftvision, in der der Mittelpunkt der Existenz die Fortpflanzung ist, der Erhalt der Art, das Zeugen von Nachkommen. Es geht nicht um Gemeinschaft, um Wissen, um Kunst, um Kultur, ganz im Gegenteil, das wird hier gezielt aufgegeben, solange nur Macht und Fortbestand gesichert sind.

Dies geschieht in Form staatlich verordneter und damit legitimierter Vergewaltigungen von Frauen, die von der Regierung vorgesehen sind und von den Bürgern akzeptiert werden, an deren Umsetzung sich alle beteiligen. Die Frauen, die noch fruchtbar sind, haben jegliches Recht auf persönliche Freiheit verloren und müssen zum Wohl des Staates ihren gebärfähigen Körper der Gemeinschaft zur Verfügung stellen. Sie sind Zuchttiere. Man beobachtet einen irren und verzweifelten Gottesstaat, der in alttestamentarische Gebaren zurückfällt, dabei, seine Existenz zu sichern. Man sieht eine Gesellschaft, die dieser Bezeichnung spottet. Die Kritik, die dieser Roman übt, besonders an religiös-extremistischen Tendenzen und deren Ausdehnung in politische Bereiche, ist dabei geradezu grandios.

Nicht ganz mein Fall war dagegen die gewählte Erzählform. Man ist in diesem Report tatsächlich auf den nachträglichen Bericht der Magd Desfred angewiesen, die sich als nicht immer zuverlässig erweist (was letztlich auch als überaus raffinierter Schachzug der Autorin gewertet werden kann). Und es liegt auch in der Natur der Sache, dass sie eben nur aus ihrer Sicht berichten kann. Das schränkt letztlich ein, auch wenn es den Roman nicht daran hindert, eine enorme Tiefe zu erwirken. Aber in der Breite fehlte mir etwas. Das ist mehr so eine persönliche Vorliebe. Die Ich-Perspektive kommt bei mir häufig nicht besonders gut weg. Und bedingt durch diese eingeschränkte Perspektive erschienen mir dann auch nicht alle Entwicklungen und Motive durchweg schlüssig und überzeugend.

 

Glücklos

Was sich dafür sehr dicht und präsent aufbaut, ist die Atmosphäre in dieser Geschichte, das ist großartig. Alles Menschliche ist emotionslos, teilweise kühl und distanziert, teilweise abgestorben und unterdrückt. Im Kontrast dazu sind Szenen im hellen Frühlingslicht, stickige Sommernächte oder ein Windhauch an den Gardinen extrem fühlbar beschrieben. Da steckt von Margaret Atwood sprachlich eine Macht dahinter, die wirklich sitzt.

Die Figuren sind fast wie unter einer Betäubung inszeniert, als lebten sie alle in einer Art Wachkoma, sie existieren und fügen sich, Glück scheinen aber selbst die privilegierten Männer und die sicheren Ehefrauen nicht zu empfinden.

 

Auf der Leinwand

»Der Report der Magd« wurde inzwischen zwei Mal in bewegten Bildern adaptiert. Bereits 1990 erschien »Die Geschichte der Dienerin«, eine Co-Produktion der USA und der BRD unter der Regie von Volker Schlöndorff und mit Natasha Richardson in der Rolle der Magd Desfred. Ein durchaus interessant gemachter Film, der in der zweiten Hälfte aber für mein Empfinden stark nachlässt und mich am Ende an seiner Aussage zweifeln ließ.

2017 folgte »The Handmaid’s Tale« als 10-teilige Fernsehserie mit Elisabeth Moss (»Mad Men«) in der Hauptrolle. Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit die Serie zu sehen, allerdings hat der Trailer mich schon enorm elektrisiert, und das auf einer ganz anderen Ebene als der Roman. Auf einer zugegeben sehr viel stärkeren. Aber ein Trailer allein macht noch keinen Sommer, auch wenn die zahlreichen Auszeichnungen und positiven Kritiken, die der Serie angedeihen, diesen ersten Eindruck durchaus rückversichern. Auch eine zweite Staffel ist bereits fertig und wird ab April bei dem US-Streamingdienst Hulu starten, ein Termin für die deutsche Erstausstrahlung stand bis zur Veröffentlichung dieses Beitrags noch nicht fest.

Ab dem 15.03.2018 ist die erste Staffel der Serie »The Handmaid’s Tale« auch auf DVD und Blu-Ray erhältlich.

 

Fazit: Ich muss zugeben, ich empfand den Roman nicht durchweg schlüssig in den Motiven und der Entwicklung der beschriebenen Ereignisse, aber »Der Report der Magd« transportiert so eine geballte und kluge und provozierende und gedankenanregende Gesellschaftskritik und in seiner Thematik so viele spannende und wichtige Fragen, dass es mir unmöglich wäre, nicht in irgendeiner Weise von dieser Geschichte berührt zu sein und die Lektüre als lohnend zu betrachten.

In Zahlen: Stil: 4/5 | Idee: 5/5 | Umsetzung: 3/5 | Figuren: 3/5 | Plot-Entwicklung: 3/5 | Tempo: 3/5 | Tiefe: 5/5 | Komplexität: 4/5 | Lesespaß: 3/5

 


© Piper
Margaret Atwood – Der Report der Magd

Originalausgabe »The Handmaid’s Tale« (1985)

übersetzt aus dem kanadischen Englisch von Helga Pfetsch

April 2017 bei Piper

Taschenbuch | 416 Seiten | 12,00 EUR

Genre: Dystopie

Reihe: Einzelband

Schauplatz: USA

 

 

Die Besprechung erscheint im Rahmen des Blog-Spezials »Dystopische Literatur« mit Bloggerkollegin Christina von »Die dunklen Felle«.

 

Weitere Besprechungen zu »Der Report der Magd« u.a. bei:

HerzDeinBuch: »Alles in allem ist „Der Report der Magd“ so ein vielschichtiges, komplexes Buch und behandelt so wichtige Themen, dass ich nicht weiß, ob ich dem in einer Rezension überhaupt gerecht werden kann.«

Literatur im Fenster: »Es mag dem Erzählstil geschuldet sein, den ich in der Kunstfertigkeit wie auch im Aufbau des allmählichen Aufdeckens der Zusammenhänge bei Atwood für meisterhaft halte.«

Zeit für neue Genre: »Margaret Atwoods Schreibstil übertrifft sich selbst an erzählerischer Eleganz.«

 

 

10 Kommentare zu “Margaret Atwood – Der Report der Magd

  • Pingback: Das Blog-Spezial »Dystopische Literatur« gemeinsam mit »Die dunklen Felle«

  • 21. Februar 2018 at 17:29
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    Tatsächlich habe auch ich mit der unzuverlässigen Erzählerin gehadert. Andere Sichtweisen dieses religiös-fundamentalistischen Konstrukts hätten einfach noch mehr Einblick verschafft. Andererseits ist manchmal mehr Einblick vielleicht auch nicht hilfreich – hier denke ich z. B. an “Die Straße”, bei der man ja gar nicht weiß, wie es zu diesem Status gekommen ist, bzw. wird es höchstens angedeutet. Da ist auch bei “Der aufrechte Mann” so. Aber tatsächlich bevorzuge ich auch gerne mehr Einblick. Ich will dann die ganze Gesellschaft durchleuchten und nicht nur einen Blick darauf haben.

    Nichtsdestotrotz hat Margaret Atwood natürlich ein kleines Meisterwerk geschaffen, welches einen lange nicht loslässt. Ich denke heute noch darüber nach. Das ist im Übrigen ein wirklich gutes Kunststück, dass viele der Dystopien bei mir leisten – dass ich auch nach Tagen, Wochen, Monaten immer wieder mal dran denke und darüber nachdenke.

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    • 21. Februar 2018 at 19:33
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      Ah, das ist interessant zu hören! Ja, da bin ich völlig bei dir, bei manchen Geschichten ist mehr Einblick nicht zwingend besser, und gerade “Die Straße” ist perfekt so wie sie ist, besonders die Endzeitstimmung und die karge Umwelt, die kargen Seelen, da braucht man nicht mehr, das ist so genau richtig und unterstreicht nur den Gesamteindruck. Hier bei dem Report blieben bei mir am Ende einige, teilweise auch einfach rein praktische, Fragen offen. Bin daher umso gespannter auf die Serie, weil ich mir vorstellen kann, dass man da noch etwas raumgreifender vorgehen wird.

      Das stimmt, die Dystopien haben bei mir den gleichen Effekt. Man kann so viel hinterfragen, Gesellschaften, Systeme, Formen des Zusammenlebens, Fragen von Ethik und Moral, vom Menschsein und vom Dasein, von richtig und falsch und über den freien Willen und Selbstbestimmung, das ist wunderbar anregend und das macht diese Romane allesamt wirklich zu extrem spannender Lektüre.

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  • 21. Februar 2018 at 18:50
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    Von der Geschichte her klingt es ja ganz erschreckend. Ich habe nur reingelesen, aber den Schreibstil fand ich derart trocken, dass ich es nach ein paar Seiten wieder beiseite gelegt habe. Allerdings wenn du schreibst, dass die Figuren wie im Wachkoma wandeln, erklärt sich auch dieser. Vielleicht gebe ich dem Buch noch eine Chance. Mal sehen.
    Danke für die ausführliche Besprechung!

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    • 21. Februar 2018 at 20:02
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      Sich das Szenario vorzustellen, lässt es einen eiskalt den Rücken hinunterlaufen. Den Schreibstil selbst mochte ich sehr, da kam sehr viel rüber. Dieses Gefühl, dass die Figuren wie in einer Art Wachkoma agierten, rührte von der Stimmung her, gerade bei der Protagonistin Desfred, sie bekommt alles mit, was mit ihr geschieht, aber sie kann nicht wirklich reagieren, so empfand ich das. Also auch ganz bewusst von der Autorin so gewollt, denke ich.

      Ich würde glatt noch zu einem zweiten Versuch raten, manchmal braucht es nur den richtigen Moment. Aber manchmal passt es auch gar nicht, das ist am Ende auch kein Drama.

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  • 25. Februar 2018 at 15:23
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    Ich habe zu dem Buch keine Kritik geschrieben und werde es auch nicht machen, aber du angedeutet hast, dass dich meine Meinung interessiert: Hier bin ich 😀
    Also ich wurde auch direkt in den Strudel gezogen, war fasziniert udn schockiert zugleich von der Welt. Auch mir drängte sich die Frage auf “Wie würde ich handeln?”

    Ich bin der Ich-Perpektive nicht abgeneigt, finde sie oft sogar sehr passend, aber hier muss ich auch sagen: Sie schränkt zu sehr ein. Damit meinen ich nicht den Einstieg und das Ende. Eher das Drumherum. Man sieht die Welt mit Scheuklappen. Bekommt gelegentlich ein paar Fetzen der Außenwelt hingeschmissen und saugt sie förmlich in sich auf. Aber das war mir zu wenig.

    Und ich hatte das Gefühl, dass die Menschen in einer Art abgeschirmten Gegend leben?! Oder bekam ich nur den Eindruck, weil das Leben der Magd zu eingeschränkt war? Mh…
    Die Serie möchte ich mir auch noch anschauen. Die kurze Serie auf Netflix “Alias Grace” hast die mal gesehn? Die versteh ich irgendwie nicht … also das plötzliche Ende.

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    • 25. Februar 2018 at 22:00
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      Ich habe auch nicht per se etwas gegen die Ich-Perspektive, bei manchen Geschichten passt sie perfekt. Aber oft ist, wenn mir ein Roman nicht so richtig zugesagt hat, am Ende die Wahl der Perspektive der Knackpunkt.

      Ich würde schon denken, dass das eine weitgehend isolierte bzw. abgeriegelte und bewachte Wohngegend war, ja. Hatte schon das Flair einer Siedlung, oder einer typischen US-Vorstadt-Gegend. Die Militärs mit ihren Ehefrauen im extrem seltsamen Sub-Urbia.

      “Alias Grace” habe ich noch nicht gesehen, da wollte ich auch gerne den Roman zuvor lesen. Ich habe mir jetzt aber erstmal “Oryx und Crake” besorgt und werde bei Gefallen dann die komplette Trilogie lesen und dann wäre “Alias Grace” interessant. 🙂 Willst du den Roman denn noch lesen?

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      • 26. Februar 2018 at 18:21
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        Ja @ “Alias Grace” eben weil ich die Serie nicht ganz verstanden hab. Muss da was übersehen haben oder doe Autoren haben das Buch nicht perfekt in Szene setzen können?!
        Aber das mach ich alles erst ab April, wenn ich mit meinen Japanern durch bin 😛

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