Ken Bruen – London Boulevard

Wenn ein Kriminalroman mit der Entlassung des Protagonisten aus dem Gefängnis beginnt, dann gibt es da fast ausnahmslos auch diesen einen Typen, der vor der Haftanstalt wartet, um den frisch Entlassenen abzuholen. Wahlweise mit Kippen in der Jackentasche, Schnaps im Handschuhfach oder dem nächsten Coup im Kopf. Soll ja Spaß machen.

Und so beginnt auch »London Boulevard« mit der Entlassung von Mitchell, der wegen Körperverletzung drei Jahre abgesessen hat und nun mit den motivierenden Worten des Direktors »Sie kommen wieder.« in die Freiheit entlassen wird. Draußen wartet Norton, eine Art Kumpel, weit entfernt von der dicken Buddy-Nummer, die in anderen Kriminalromanen abläuft, aber eben doch der Mensch, der Mitch nach seiner Haftstrafe in Empfang nimmt. Schnaps hat er natürlich auch dabei. Und Kippen.

 

Gekonnt ist gekonnt

Es dauert bis zur ersten roten Ampel, an der ein Fensterputzer die Windschutzscheibe des Wagens mit einem dreckigen Lappen in einen undurchsichtigen Zustand versetzt, dafür vier Pfund verlangt, Mitch ihn auslacht, der Putzer Mitch daraufhin anspuckt und Norton nur noch »Gott, Allmächtiger.« murmeln kann, bevor Mitch aus dem Wagen steigt und dem spuckenden Fensterputzer den Arm bricht, noch ehe die Ampel wieder grün wird.

Ein Problem mit der Impulskontrolle, hieß es mal in einem anderen Roman. So kann man es auch beschreiben. Und so ist es dann nicht weiter überraschend, dass Mitch sich schnell wieder in den kriminellen Kreisen wiederfindet und mit Dealern und Schutzgelderpressern abends in der Kneipe sitzt. Sein erstes Jobangebot hat dann auch direkt etwas mit Baseballschlägern, Hochhäusern in Brixton und räuberischer Erpressung zu tun hat.

 

Die alte Dame

Jobangebot Nummer Zwei klingt da schon besser. Geregeltes Einkommen, feste Arbeitszeiten. Auf dem Anwesen der in die Jahre gekommenen Theaterdiva Lillian Palmer wird ein Hausmeister benötigt. Ein Mann für Ausbesserungsarbeiten und Reparaturen am Dach, der Fassade, et cetera pp. Madame ist immer noch eine Frau der ganz großen Gesten. Mit einer tiefen, rauchigen Stimme, einem einnehmenden Wesen und dem Hang zum Theatralischen hängt sie dem Ruhm vergangener Tage nach, betritt jeden Tag aufs neue die Bühne ihres Lebens. Ihr Butler Jordan, reserviert und treu ergeben, spielt jedes ihrer Spiele mit. Ein wenig schrullig und skurril wirken die beiden. Aber so ein bisschen neben der Spur sind doch alle irgendwie.

Mitch lebt sich dort ein, ist der alten Lady zu Diensten, verliebt sich in ein tolles Mädchen, kappt seine Verbindungen zur Londoner Unterwelt, aber stopp, stopp, stopp, so einfach läuft das nicht. Da gibt es Stress mit dem Gangsterboss Mr. Gant, mit seinem Kumpel Norton, mit einem verrückten Punk und einem osteuropäischen Killer, es sterben Menschen.

 

Sunset Boulevard

»London Boulevard« ist im Prinzip ein Roman zwischen zwei Filmen. Denn auch wenn es sich hier im Rahmen unseres Blog-Specials »VERFILMT« um Kriminalromane und ihre anschließenden Leinwandadaptionen dreht, geht diesem Roman noch ein sehr viel älterer Film voraus.

»Sunset Boulevard« von Billy Wilder, ein Schwarzweißfilm aus dem Jahre 1950 und laut dem »Amerian Film Institute« einer der besten amerikanischen Filme (rangierend auf Platz 12) aller Zeiten. Er gilt als klassischer Noir und erzählt von dem Mord an dem Drehbuchautor Joe Gillis in Hollywood, viel mehr aber noch erzählt er die Geschichte des in Vergessenheit geratenen Stummfilmstars Norma Desmond, die in einer alten Villa wie in einem Schrein ihrer vergangenen Berühmtheit lebt und deren Butler Max dafür sorgt, dass es Madame an nichts fehlt.

Ken Bruen arbeitet in seinem Roman mit den Motiven von »Sunset Boulevard«, erzählt aber trotzdem eine völlig neue Geschichte, erschafft einen eigentständigen und modernen Kriminalroman, der diesem Filmklassiker huldigt und sich vor ihm verneigt, ihn aber nicht kopiert. Ich kannte den Film »Sunset Boulevard« bis dato nicht, habe ihn mir in Vorbereitung auf diese Besprechung aber ebenso angesehen, wie die eigentliche Verfilmung, um die es gleich noch gehen wird, und bin ehrlich von den Socken. Ein fantastischer Film mit viel Sinn für Humor und Timing, ein klarer Kommentar zum Filmbetrieb in Hollywood und überraschend unterhaltsam und zeitlos in seinem betagten Gewand.

 

Bruen’sche Note

Zurück ins Hier und Jetzt und zu Ken Bruen. Dessen Schreibstil ist neben der flinken Story defintiv eine Nummer für sich. Wie so viele seines Fachs pflegt auch er den rüden und knappen Ton und beherrscht das Spiel damit meisterhaft. Er erzählt schnurgerade, klar und hat dabei so eine eigene Note, eine eigene Klangfarbe in seinem Schreiben, das macht mir verdammt viel Spaß und wenn man sich den Erfolg und den Status dieses Autors anschaut, auch ganz vielen anderen Krimilesern.

Zudem zeichnet Bruen seinen Protagonisten und Gangster Mitch hier sehr viel konsequenter als so manch anderer Autor. Er gönnt sich zwar Humor und Coolness, verzichtet aber auf Pathos oder geheuchelte Moral. Während ich mich bei so manchem Krimi schon gefragt habe, ob sich die echten schweren Jungs nicht einfach bloß scheckig lachen würden über die Darstellung ihrer Zunft, kommt einem bei Ken Bruen dieser Gedanke gar nicht erst. Na ja, vielleicht nur ganz kurz.

 

Der Film

Die Neugier auf die Leinwandumsetzung war nach der Lektüre demnach groß. Zum einen galt es natürlich zu vermeiden, den Film so zu adaptieren, dass er dem Klassiker »Sunset Boulevard« zu sehr glich. Zum anderen hat Bruens Roman solch einen szenischen, geradlinigen und schlagfertigen Stil, dass man ihn fast Eins zu Eins hätte verfilmen können. Beides ist nicht geschehen, da die Story für den Film umfangreich abgeändert wurde.

William Monahan zeichnet sich für die Inszenierung von »London Boulevard« verantwortlich. Er fungierte sowohl als Produzent und Regisseur, wie auch als Drehbuchautor. Das war auch sein bisheriges Steckenpferd. Er hat u.a. das Skript für Ridley Scotts »Königreich der Himmel« verfasst. Auch für Martin Scorseses »Departed – Unter Feinden« hat Monahan das Drehbuch nach dem Original »Infernal Affairs« geschrieben. Dafür wurde er dann 2007 auch mit einem Oscar ausgezeichnet.

Nun also sein Regiedebüt im Jahre 2010 mit »London Boulevard«. Für sich betrachtet ein Film, der viele starke Vorsätze hat, die sich letztlich aber nicht so hunderprozentig stimmig zusammenfügen. Lässt man den Roman einmal außen vor, hat man ansich schönes Londoner Gangsterkino, aber kein bahnbrechendes Leinwanderlebnis. Aus dem Roman von Ken Bruen hat man sich den Zündstoff geschnappt, und dann etwas eigenes daraus gebastelt.

 

Ein guter Kompromiss

Der Plot wurde stark umgeschrieben, sodass man im Prinzip den Vergleich zum Roman vernachlässigen könnte, wäre da nicht diese gelungene Schleife zur Thematik vom »Sunset Boulevard«. Während dieser vorhin angesprochene Noir-Klassiker sich schon mit den Schattenseiten des Filmgeschäfts auseinandersetze, greift William Monahan das auch wieder auf und passt es an den heutigen Starkult an. Er kritisiert das schamlose Eindringen der Presse in die Privatsphäre von Schauspielern, ebenso wird die Rolle der Frauen im Filmbusiness kurz thematisiert. Zwar geschieht das wenig subtil und es steht nicht im direkten Fokus der Handlung, aber gerade die Bezüge über Ken Bruens Roman zurück zu dem berühmten Schwarzweißstreifen sind nett.

Besetzt sind die Hauptrollen mit zwei großen Namen. Colin Farrell gibt den Kriminellen Mitchell, aus der betagten Theaterdiva wurde allerdings der junge Filmstar Charlotte, gespielt von Keira Knightley. So richtig bin ich mit der Umdichtung der Story nicht warmgeworden, was einfach daran lag, dass ich Ken Bruens Idee zu gut fand, um sie nicht im Film wiederzufinden. Ich sehe allerdings ein, dass das vermutlich zu dicht am ursprünglichen »Sunset Boulevard« gewesen wäre. Und unter diesem Gesichtspunkt ist der Film dann auch ein guter Kompromiss.

 

Fazit: Ken Bruen mixt Elemente aus dem Hollywood-Schwarzweiß-Klassiker »Sunset Boulevard« mit dem Londoner »East-End-Boys-und-West-End-Girls«-Motiv und kreiert damit einen modernen, konsequenten Kriminalroman der harten Schule, der gerade zum Ende hin komplett überzeugen kann. Die Verfilmung rückt ein ganzes Stück vom ursprünglichen Plot ab und zeigt einen Londoner Gangsterstreifen mit einigen netten Momenten, der auf mich aber vermutlich mehr Eindruck gemacht hätte, wäre Ken Bruens Roman nicht derart spaßig durchtrieben gewesen.

Bewertung: 4.6 Punkte = 5 Sterne

Stil: 5/5 | Idee: 5/5 | Umsetzung: 5/5 | Figuren: 4/5
Plot-Entwicklung: 5/5 | Tempo: 4/5 | Tiefe: 4/5
Komplexität: 4/5 | Lesespaß: 5/5 | = 4.6/5.0

 


© Suhrkamp
Ken Bruen – London Boulevard

Originalausgabe »London Boulevard« (2001)

übersetzt aus dem Englischen von Conny Lösch

November 2010 bei Suhrkamp

Taschenbuch | 262 Seiten | 8,95 EUR

Genre: Kriminalroman

Reihe: Einzelband

Schauplatz: London

 

 

Die Besprechung erscheint im Rahmen des Blog-Spezials »VERFILMT« mit den Kollegen von Kaliber.17.

4 Kommentare zu “Ken Bruen – London Boulevard

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