Juli Zeh – Corpus Delicti. Ein Prozess

»Corpus Delicti« von Juli Zeh ist eigentlich ein Roman, über den ich reden und nicht schreiben möchte. Weil er eine ganze Ecke philosophischer Denkanstöße mit sich bringt. Und über philosophische Themen muss man reden. Da braucht man einen Dialog, keinen Monolog, auch wenn der Anschein ein anderer ist, bedenkt man all die philospohischen Schriften. Aber darum geht es ja jetzt gar nicht.

 

Vom Theaterstück zum Roman

Und was das Reden angeht, da ich den Roman schon vor ein paar Tagen beendet habe und mein Gedächtnis eher gefühlsgeschwängerte Eindrücke als detaillierte Passagen behält, hat sich das Zeitfenster für ein aufregendes Gespräch im Prinzip auch schon längst geschlossen. Also kann ich hier genauso gut fröhlich vor mich hin monologisieren.

2009 erschien »Corpus Delicti«, das aus dem 2007 uraufgeführten, gleichnamigen Theaterstück der Autorin hervorging. Das Szenenhafte eines Theaterstücks merkt man diesem Roman übrigens noch an und gerade das kam mir, die gerne präzise und knappe Handlungsabfolgen mag, sehr entgegen. Ich hatte eine große Sympathie für den Stil und den Aufbau des Romans, weil er zu keinem Zeitpunkt schwafelt, sondern sehr geradlinig erzählt, obwohl mit den Kapiteln immer wieder Sprünge zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit erfolgen.

 

Grünes und gesundes Deutschland

Im Roman sind wir in der Mitte unseres Jahrhunderts angekommen, Deutschland ist grün und gesund. »Hier stinkt nichts mehr. Hier wird nicht mehr gegraben, gerußt, aufgerissen und verbrannt…« (Zitat S. 11, Juli Zeh, Corpus Delicti, btb 2010, 19. Auflage) Es wird von stillgelegten Fabriken, stillgelegten Autobahnen gesprochen, stillgelegten Kirchen. Solarzellenkollektive dominieren Landschaften aus Flachdächern und Magnetbahn-Trassen durchkreuzen das Land. Die Bewohner Deutschlands tragen alle einen Mikrochip unter der Haut ihrer Oberarme. Sie erfüllen täglich ihren staatlich verordneten Sportsoll, liefern regelmäßige ihre Körperdaten an die Behörden, es existiert eine Meldepflicht für Schlaf- und Ernährungsberichte.

Dem Staat liegen umfangreiche medizinische Datenblätter über jeden Bürger vor, seine Werte werden mittels modernen Technik lückenlos überwacht. Kalorienverbrauch, Stoffwechselabläufe, Blutwerte, Leistungsprofil, sobald es dort zu Abweichungen kommt, werden die Behörden darüber informiert. Das alles hat Methode. Die METHODE. So nennt sich das System, das zu einer Art Staatsreligion erhoben wurde, und dessen Nichtbefolgen unter Strafe steht.

Im Land machen alle brav mit. Und natürlich, wer will schon krank sein! Krankheit bedeutet Schmerz, Not, Leid, Elend. Unglück. Und wir sollen doch alle glücklich sein. Aber zu welchem Preis? Und in welcher Verhältnismäßigkeit?

 

Mia und Moritz

Hier geschieht dies zum Preis der kompletten Überwachung und Bevormundung der Menschen durch den Staat. Eingriffe ins Private bis hin zur Partnerwahl, denn die erfolgt längst nicht mehr nach persönlichen Vorlieben, sondern nach Kompatibilität der Immunsysteme. Die Zentrale Partnerschaftsvermittlung sorgt für das richtige Herzblatt. Und auch hier wird registriert, ob man diesen »Service« in Anspruch nimmt. Wenn nicht, fällt es im Zweifelsfall, sprich bei einer eventuellen Prüfung der Akten durch ein Gericht, unangenehm auf.

All diese Überwachung fällt Mia Holl auf die Füße, als »die erfolgreiche Biologin mit Idealbiografie« während einer Trauerphase ihre Meldepflichten zu vernachlässigen beginnt. Der fürsorgliche Staat bemerkt natürlich all die nicht eingereichten Schlaf- und Ernährungsberichte, die fehlenden Blutdruckmesswerte, die aufgestauten abzuleistenden Kilometer auf dem Hometrainer. Das Gericht bekommt Mias Akte auf den Tisch, beraumt ein Klärungsgespräch an, bei dem man der bisher straffreien Mia Holl ins Gewissen reden möchte.

Immerhin berücksichtigt man die besonderen Umstände, die Trauerphase. Ein Trauerfall in der Familie ist immer schwer. Hier besonders. Ihr Bruder Moritz hat den Freitod gewählt. Er wurde wegen Mordes und Vergewaltigung angeklagt und des Verbrechens für schuldig befunden, ein DNA-Abgleich ließ da keinerlei Zweifel. Bis zuletzt war er nicht geständig, beharrte auf seiner Unschuld. Und nahm sich schlussendlich in seiner Gefängniszelle das Leben.

 

Liebe und Logik

Mia liebte ihren Bruder, er war der verrückte Träumer, der Spinner und Phantast in der Familie. Ein Freigeist, Philosophiestudent. Hielt sich verbotenerweise lieber in der freien Natur auf, setzte sich auf den schmutzigen Waldboden und legte sich ins Gras. Verrückt! Er liebte und lebte. Mia dagegen traut Gefühlen nicht, ihr liegt das logische, analytische Denken, die Naturwissenschaft. Aus sich herauszugehen, fällt ihr schwer, sie ist ein zurückgezogener Typ, meidet die Menschen. Sie ist Mitte dreißig und führt ein tadelloses Leben, nicht aus politischer Überzeugung, sondern aus Desinteresse.

Dass ihr Bruder das ihm zur Last gelegte Verbrechen begangen haben soll, will sie aber trotz der DNA-Beweise nicht glauben. Und hieraus entwickelt sich dann, letztlich überhaupt erst ins Rollen gebracht durch das System selbst, Mias Umdenken, Protestieren und Ablehnen einer staatlichen Kontrolle und einer Diktatur, der sie sich zuvor noch relativ gleichgültig unterworfen hat.

 

Das Propagandaorgan

Mias Gegenpol in der Handlung ist Heinrich Kramer, fast so etwas wie ein Propagandaorgan der Methode, eigentlich Journalist und Autor, aber überzeugter, wenn auch nüchterner Vertreter, ja fast pragmatischer Nutznießer des Systems. Hauptsache Macht. In der realen Historie unserer Zeit war Heinrich Kramer der Verfasser des »Hexenhammers«, dem zentralen Werk zur Legitimation der Hexenverfolgung im Mittelalter. Hier in »Corpus Delicti« hat Heinrich Kramer das Standardwerk der Methode »Gesundheit als Prinzip staatlicher Legitimation« verfasst. Auch der Name der Protagonistin Mia Holl ist nicht zufällig gewählt, sondern Maria Holl entlehnt, einer Gastwirtin aus Bayern, die während der Hexenprozesse als Hexe angeklagt, aber schließlich freigesprochen wurde.

Das Motiv der Hexenverfolgung dient hier als Symbol für eine der Kernaussagen des Romans. Denn in dem System, unter der METHODE, die hier in Form einer totalitären Gesundheitsdiktatur auftrifft und die dem Staat das Recht einräumt, seine Bürger komplett zu überwachen, ihr Leben zu reglementieren und normieren, wird freiheitliches Gebaren und selbstbestimmtes Agieren nicht akzeptiert. Du hast heute keine Lust deine vorgeschriebenen Sporteinheiten zu absolvieren? Schande über dich! Du hast eine Zigarette geraucht? Schäme dich, oh schäme dich! Und übrigens, das ist strafbar. Du bist der staatlich vorgeschriebenen Untersuchungspflicht nicht nachgekommen? Du vernachlässigt deine Bürgerpflicht! Dabei muss sich das Individuum doch zum Wohle der Gemeinschaft zurücknehmen! Was gut für alle ist, ist auch gut für dich.

 

An den Pranger

Daraus entwickelt sich eine Haltung, die selbst heute schon dazu verleitet, Menschen für ihr Art zu leben, anzuprangern, wenn sie damit nicht dem Ideal von Gesundheit und Fitness entsprechen. Das alles spitzt Juli Zeh in diesem Szenario zu, die Freiheit selbst zu entscheiden, was gut für einen ist, existiert in »Corpus Delicti« nicht mehr.

Man hat das nicht zu entscheiden, es wird für einen entschieden. Bequemlichkeit, oh ja, wo sonst die Religion Entscheidung und Verantwortung übernahm, braucht es eine neue Institution, die das übernimmt. Als würde dem Menschen Freiheit und Selbstbestimmung so viel Angst bereiten, dass er sich bereitwillig dem nächsten Machtorgan unterordnet.

 

Der Flipperautomat in meinem Kopf

Ich könnte an dieser Stelle noch ewig weitermachen und die vielen und vielen Gedankengänge ausführen, die »Corpus Delicti« initiiert. In meinem Kopf sieht es aus wie in einem Flipperautomaten, tausend Lampen blinken und eine Kugel schießt von Denkanstoß zu Denkanstoß, zig Impulse jagen umher.

Das ist auch der Grund, warum ich so auf diesen Roman abfahre. Er ist auf eine gewisse, formale Weise relativ schlicht gehalten, wenn man aber mitgeht, dann eröffnen sich Diskussionsfelder, über die man unbedingt einmal nachdenken sollte. Weil die Zukunft hier gar keine allzu abstrakte Vision ist, sondern die ganz konkrete Frage danach, was wir hier treiben.

Ich bin für gewöhnlich immer eine der Ersten, die sich beschwert, wenn ein Roman belehrend erscheint, wenn mit erhobenem Zeigefinger gemahnt wird oder Autoren die Handlung ihrer Botschaft opfern. Interessanterweise wird das diesem Roman in nicht wenigen Kritiken vorgeworfen und auch Juli Zeh hat in verschiedenen Interviews vorgebracht, dass sie diesen Roman als didaktischen, also belehrenden Roman verfasst hat, dass sie sich dieses Thema von der Seele schreiben wollte. Aber genau so muss das dann aussehen. Ich finde, dass man genau so schreiben sollte, wenn man eine Botschaft hat, aber nicht der Klugscheißer vom Dienst sein möchte. Für mich war »Corpus Delicti« ein Roman, der mir etwas zu sagen hatte auf eine Art, die ich sehr mochte und mit einem Tenor, der mich erreicht hat.

 

In Zahlen: 9/10 Punkte

 


© btb Verlag
Juli Zeh – Corpus Delicti. Ein Prozess

Taschenbuchausgabe 2010

Originalausgabe Februar 2009 bei Schöffling & Co.

Taschenbuch | 272 Seiten | 10,00 EUR

Genre: Dystopie

Reihe: Einzelband

Schauplatz: Deutschland in der Zukunft

 

 

 

Die Besprechung erscheint im Rahmen des Blog-Spezials »Dystopische Literatur« mit Bloggerkollegin Christina von »Die dunklen Felle«.

 

Weitere Besprechungen zu »Corpus Delicti. Ein Prozess« u.a. bei:

El Tragalibros: »Corpus Delicti ist eine wirklich interessante und gut durchdachte Dystopie. Es ist spannend zu erfahren, wie sich der Traum eines Lebens ohne Leid und Schmerz, sprich ohne Krankheit, verändert; …«

1001 Bücher: »Der Idealkörper ist für viele Menschen das Wichtigste auf der Welt, wer die Idealmaße nicht besitzt, ist zu faul, Sport zu machen. … Wer nicht täglich nur mit den frischesten Sachen kocht, ist nur zu faul. Verbote für alles, was dem Körper schadet, werden diskutiert oder sind schon durchgeführt.«

HerrLabig: »„Corpus Delicti“ ist vielmehr ein Buch, in dem die Tendenzen der Gegenwart mit großer intellektueller Schärfe aufgegriffen und weiter gedacht werden. Im Buch führt die Fürsorglichkeit des Staates zur radikalen Entmündigung der Bürger …«

reisswolfblog: »Nun, jedenfalls regt die geäußerte Kritik am diktatorischen System und am gläsernen Menschen, die die Autorin über ihre Figuren äußert, wirklich zum Nachdenken an. Inwieweit haben wir es denn schon geschafft, die Weichen für ein solches System in naher oder ferner Zukunft zu stellen?«

 

13 Kommentare zu “Juli Zeh – Corpus Delicti. Ein Prozess

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