Antonio Ortuño – Madrid, Mexiko

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Meine Leseeindrücke zu »Madrid, Mexiko« von Antonio Ortuño festzuhalten, fällt mir ähnlich schwer wie schon bei seinem Vorgängerroman »Die Verbrannten«. Da ich mich aber bis heute darüber ärgere, dass ich zu diesem harten und unbequemen, schonungslosen und unerbittlichen, großartigen und sprachgewaltigen Roman um die Situation zentralamerikanischer Flüchtlinge in Mexiko keine Besprechung geschrieben habe, obwohl ich diesen Roman ständig und aufdringlich empfehlen möchte, will ich nun wenigstens versuchen, zu »Madrid, Mexiko« ein paar Worte für den Blog zu finden.

 

Ohne Schublade

Warum es mir schwerfällt, über Antonio Ortuño und seine Romane zu schreiben, obwohl sie mich begeistern, ist mir selbst nicht ganz klar. Vielleicht liegt es letztlich daran, dass ich denke, dass man seine Geschichten einfach selbst lesen, selbst erleben muss. Auch wenn »Madrid, Mexiko« eine ganz andere Wucht entwickelt als »Die Verbrannten«  – dieser Roman tat viel mehr weh – so baut sich über den Wechsel von Vergangenheit und Gegenwart und deren Verzahntheit ineinander auch hier wieder eine sehr eigene, sehr besondere Geschichte auf, die, erfreulicherweise, in keine Schublade passt.

Sie ist Roman und Thriller, Familiendrama und Zeitgeschichte, sie ist ein bisschen Mexican Noir, auf ihre Art politisch, vor allem aber menschlich. Und sie packt einen eher hinterrücks, da sind viele dieser kleinen Momente, die wirken.

 

Ohne Ruhe

Ihren Anfang nimmt die Handlung von »Madrid, Mexiko« im Spanien der 1920er Jahre. Da sind die Freunde Yago und Benjamin. Eine Frau und die Entscheidung für gegnerische politische Lager entzweit die beiden, und während später der Spanische Bürgerkrieg ihre Heimat zerstört, flüchtet Yago mit Frau und Kindern über Frankreich und die Karibik nach Mexiko. Benjamin setzt ihnen nach, auf der Suche nach Vergeltung. Für alles. Für Ungerechtigkeiten, für falsche Entscheidungen. Flucht und Jagd ganz eng beieinander.

Und dann der zweite Handlungsstrang. Omar, der Enkel von Yago, in der Gegenwart. Er lebt in Guadalajara, Mexiko und ist das schwarze Schaf der Familie, hilft in einem Antiquitätengeschäft aus, hat ein Verhältnis mit seiner Chefin Catalina. Die wiederum ist mit einem zwielichtigen Gewerksschaftschef verbandelt. Der wiederum erwischt Catalina und Omar bei einem Schäferstündchen. Es fallen Schüsse, am Ende lebt nur noch Omar. Und der treu ergebene Lakai des Gewerkschafters, El Concho. Wieder liegen Flucht und Jagd nah beieinander.

 

Ohne Gnade

Aber Autor Antonio Ortuño baut daraus keineswegs eine Rachegeschichte, konstruiert keine stumpfe Hetzjagd, sondern erzählt im steten Wechsel von Ort und Zeit die sehr genau komponierte Biografie einer Familie und deren Weg durch ein Jahrhundert. Allerdings geschieht dies weder chronologisch noch vollständig, sondern in sorgfältig ausgewählten Versatzstücken.

Wir sind bei Omar 1997 in Mexiko, wie er vor El Concho flieht, bei Yago 1946 kurz nach seiner Ankunft mit seiner Familie in Veracruz, dann wieder in Madrid 1923. Es folgen weitere Stationen in Spanien, in Südfrankreich, in der Karibik, es ist 1939, 1936, 1997. Dann wieder 1945, 2014, erneut 1997.

Das mag wüst klingen, liest sich tatsächlich aber ganz exakt aufeinander abgestimmt. An welcher Stelle der Autor eine Sequenz aus dem Leben seiner Figuren erzählt, ist wirkungsvoll kalkuliert. Unterstützt durch Ortuños unaufgeregte und sehr klare Sprache, entsteht so zu keinem Zeitpunkt das Gefühl einer wilden Handlungsorgie, sondern stets dominiert der ruhige Fluss, der diesen Roman auszeichnet.

Dazu kommt noch Ortuños Figurenzeichnung. Die ist weniger um Sympathie als vielmehr um Profil bemüht und so zeigt der Autor zwar Mitgefühl für, aber wenig Gnade mit seinen Charakteren und das kreiert sehr eindringliche Situationen.

 

Mit Aussage

Nicht unerwähnt bleiben soll auch Antonio Ortuños Kernthema, das schon »Die Verbrannten« zeichnete und nun auch hier in »Madrid, Mexiko« das zentrale Motiv in der Handlung ist. Anhand seiner Figuren, ihrer Taten und den Situationen, die sie durchleben, spürt Ortuño Begriffen wie Heimat und Identität nach, hier speziell auch ihrer Veränderlichkeit über mehrere Generationen einer Familie. Er verknüpft dies in seinen Geschichten eng mit Gewalt, was nicht unerheblich mit seinem Erleben des Alltags in seiner Heimat Mexiko zusammenhängen dürfte. Ortuño schreibt in »Madrid, Mexiko« über all diese Dinge, bringt sie in einen Kontext und baut daraus etwas, das sowohl sprachlich als auch inhaltlich auf mich wirkt.

 

Fazit: »Madrid, Mexiko« ist gleichermaßen Roman und Thriller, Familiendrama und Zeitgeschichte, über Wechselseitigkeiten im Leben, darüber, woher man kommt und wohin einen Leben führt. Glasklar komponiert und erzählt von einem Autor, der ein Thema hat, über das er hoffentlich noch viele weitere Romane zu schreiben gedenkt.

Bewertung: 4,0 Punkte = 4 Sterne

Stil: 4/5 | Idee: 5/5 | Umsetzung: 4/5 | Figuren: 4/5
Plot-Entwicklung: 3/5 | Tempo: 3/5 | Tiefe: 5/5
Komplexität: 4/5 | Lesespaß: 4/5 | = 4,00

 

 

 


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© Verlag Antje Kunstmann
Antonio Ortuño – Madrid, Mexiko

Originalausgabe »Méjico« (2015)

übersetzt aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein

März 2017 im Verlag Antje Kunstmann

Hardcover | 224 Seiten | 20,00 EUR

Genre: Roman

Reihe: Einzelband

Schauplatz: Spanien und Mexiko

 

 

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