Anita Nair – Gewaltkette

cover anita nair gewaltkette

Ha, was für ein großartiger Kriminalroman! »Gewaltkette« erzählt eine Geschichte, die mich begeistert ob ihrer kriminalliterarischen Feinheiten, die mich bedrückt ob ihrer inhaltlichen Thematik, die mir stellenweise einen Kloß in den Hals und eine Wut in den Bauch legte, mich aber immer wieder frohlocken ließ, weil hier genial geplottet wurde, die Figuren lebendig gezeichnet und sehr nahbare Alltagsmomente kreiiert wurden.

Und ein weiterer Beweis dafür ist, wie großartig das Genre Kriminalliteratur ist und was es kann und was es nicht ist.

 

What’s up, Bangalore?

»Gewaltkette« spielt in der indischen Metropole Bangalore, der drittgrößten Stadt des Subkontinents. 8,4 Millionen Menschen leben hier. Seit dem enormen Wachstum der IT-Branche hat sich die Stadt gewandelt, die Schere zwischen Armut und Wohlstand ist auch hier extrem deutlich. Während der gutsituierte Mittelstand und die reiche Oberschicht in eigenen Shoppingmalls, Fitnesscentern, Wellnestempeln und Restaurants seine Freizeit verbringt und sich in Gated Communities häuslich niederlässt, leben in den Armenvierteln der Großstadt die Menschen von der Hand in den Mund.

Ein leichtes Spiel hat da auf beiden Seiten das Verbrechen. Korruption und Erpressung bei denen, die Macht und Geld besitzen, Prostitution und Menschenhandel bei denen, die nichts mehr zu verlieren haben. So beschreibt der ermittelnde Inspector Borei Gowda im Roman immer wieder die Veränderungen, die er in all den Jahren in seiner Stadt miterlebt hat. Von den eher ländlich geprägten Strukturen zur schnelllebigen Metropole vollzog sich der Wandel auch bei der Kriminalität. Während Bangalore früher ein Durchgangsort für den Mädchenhandel war, ist er nun zum Bestimmungsort geworden, eine Stadt regiert von Zuhältern.

 

Realität

Es ist das Kernthema in »Gewaltkette«: Der Handel mit Kindern. Als billige, illegale Arbeitskräfte in Fabriken oder als Sexsklaven in Bordellen. Sie werden entführt, verschleppt, gebrochen und schließlich zugrunde gerichtet in schäbigen Verschlägen, nicht mehr als ein Nutzgegenstand für die Männer, die »Klienten«, die sie dort aufsuchen. Unglaublich bedrückend sind die Situationen, die der Leser miterlebt, genauso schwer zu ertragen die Mechanismen, die dahinterstecken.

Anita Nair beschreibt dies alles aber sehr bewusst. Die Härte des Elends ist kein Mittel zum Zweck, sie zeigt einfach das Ausmaß dessen, was dort geschieht, um zu berichten, um darauf aufmerksam zu machen, nicht um Krimistoff zu liefern. Man spürt in jeder Zeile die Realität, und da geschieht eigentlich genau das, was einen guten Kriminalroman ausmacht. Der Blick auf die Gesellschaft, auf ihr Handeln, das ist der eigentliche Krimi.

 

Lebensbilder

Natürlich gibt es aber auch eine umfassende Kriminalhandlung, wenn man so will als Rahmen einen Mord, der Anfang und Ende des Romans stellt und der dann ein ganzes Geflecht an Figuren und Lebensbildern eint und zusammenführt. Als Ermittlerfigur tritt Inspector Borei Gowda auf den Plan, ein Mann der Tat, einer der Guten, das ist seine Rolle in diesem Roman und die man braucht man als Leser auch irgendwie. Borei Gowda ist nicht unfehlbar, wenn es um sein Privatleben geht, aber in der Polizeibehörde stets der Mann, auf den man setzen würde.

Ihm zur Seite gestellt ist ein Team aus Mitarbeitern, das wie er mit dem System gegen das System arbeiten muss, um Korruption und der Mentalität der Gefällig- und Schuldigkeiten entgegenzuwirken. Eine weitere Rolle spielt ein junger Mann, der sich vom bettelarmen Kind eines Feldarbeiters zum Handlanger eines Menschenhändlers hochgearbeitet hat. Dann ist da noch ein toter Anwalt, den keiner mochte. Und ein Immobilienmakler, der mit großer Hingabe seine querschnittsgelähmte Ehefrau umsorgt.

 

Die Kinder

Und dann sind da die Kinder. Die 12-jährige Nandita, Tochter einer Hausangestellten, die entführt wird. Die junge Moina aus Bangladesh, die in einem ranzigen Bordell in Bangalore täglich Klienten zur Verfügung stehen muss. Tina und Abdul, die ebenfalls verschleppt wurden. Die College-Studentin Rekha. Drei Jungen vom Land, Jogan, Ikshu und Barun, auf dem Weg nach Bangalore, um dort Arbeit zu finden.

Sie alle stehen exemplarisch für all die Fälle von Entführung, Missbrauch und Versklavung. Es ist ein weitverzweigtes und weitreichendes Netz, dass die Kinderhändler in Bangalore betreiben und genau damit arbeitet der Roman.

 

Ich flipp aus.

Schlichtweg großartig muss man es nennen, wie die Autorin diese Geschichte konstruiert hat. Aus verschiedenen Blickwinkeln baut sie die Handlung auf, viele einzelne Personen, deren Wege sich kreuzen und deren Handeln miteinander verstrickt ist und das passiert so elegant im Hintergrund, dass es rein plottechnisch schon eine wahre Freude ist, diesen Roman zu lesen.

Auch Anita Nairs Stil ist ein Fest. Sehr aufmerksam beschreibt sie die Szenen, ohne sie zu überladen. Ihre Art zu erzählen, passt perfekt zu einer Kriminalhandlung, sie ist fokussiert und deutlich und bringt gleichzeitig eine Atmosphäre in ihre Sätze, die die Handlung und die Figuren authentisch lebendig werden lässt.

In der Handlung verdichtet Anita Nair unglaubliche viele Facetten Indiens. Und das ohne betont darum bemüht zu sein. Seien es kulturelle Aspekte, Alltagssituationen, Gepflogenheiten, religiöse Einflüsse, gesellschaftliche Strukturen und deren Veränderungen, das Leben im Wohlstand und das Existieren in der Armut, ländliche wie urbane Eindrücke, all das schmilzt in »Gewaltkette« zu einem Bild, das es wert ist, gesehen zu werden.

 

 

Fazit: Ich bin ja sonst nicht die große Leseempfehlungstante, die ausdrücklich zur Lektüre bestimmte Romane aufruft, aber in diesem Fall wünsche ich mir von Herzen, dass ganz unglaublich extrem viele Menschen diesen Roman lesen. »Gewaltkette« ist thematisch so unglaublich gut und wichtig und er ist kriminalliterarisch so unglaublich gut und wichtig. Deshalb hoffe ich, irgendwer hat diesen elend langen Text von mir gelesen und hat jetzt Böcke auf dieses wunderbare Werk. Go for it. Tu es. Nichts wie ran.

In Zahlen: Stil: 4/5 | Idee: 5/5 | Umsetzung: 5/5 | Figuren: 4/5 | Plot-Entwicklung: 5/5 | Tempo: 4/5 | Tiefe: 5/5 | Komplexität: 5/5 | Lesespaß: 5/5

 


© Argument Verlag / Ariadne Krimis
Anita Nair – Gewaltkette

Originalausgabe »Chain of Custody« (2016)

übersetzt aus dem Englischen von Karen Witthuhn

September 2017 bei Ariadne Krimis

Hardcover | 352 Seiten | 19,00 EUR

Genre: Kriminalroman

Reihe: Einzelband (bisher)

Schauplatz: Indien

 

 

8 Kommentare zu “Anita Nair – Gewaltkette

    • 18. April 2018 at 12:12
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      Warte, wo ist das Emoji, das Konfetti wirft?!?! 😀

      Freut mich!! Sehr!

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  • 19. April 2018 at 9:50
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    Ich hab den Verlag durch mein Japan Special ja entdeckt und war bereits kurz stöbern auf der Verlagsseite. Dieses Büchlein hat sich nun einen Platz auf der Einkaufsliste gesichert :3

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    • 19. April 2018 at 10:06
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      Das freut mich ja sehr, es ist wirklich ein verdammt guter Kriminalroman! 🙂 Aber welche japanische Autorin hat denn Ariadne im Programm? Mir fällt da spontan eine vietnamesische Schriftstellerin ein, aber Japan? Helf mir auf die Sprünge!

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      • 19. April 2018 at 11:46
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        War, sie war im Programm: Masako Togawa
        Leider gibt es sie dort nicht mehr 🙁

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        • 19. April 2018 at 11:52
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          Ah, stimmt, Masako Togawa erscheint jetzt im Unionsverlag, da habe ich auch noch zwei Exemplare im Regal, ungelesen. Muss ich auch bald mal gucken. Aber eigentlich wollte ich ja erstmal “Piercing” lesen. Vielleicht muss ein japanisches Wochenende her. 😉

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  • 19. April 2018 at 21:20
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    Ich hab den Text ganz gelesen und natürlich wäre ich überzeugt… wenn ich es nicht schon gelesen hätte und mir hiermit “nur” bleibt, Deine Empfehlung absolut zu unterstützen. Ein tolle Buch – und jede Seite wert.

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    • 23. April 2018 at 19:52
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      Ich bin dieses Mal gar nicht dazu gekommen, nach anderen Besprechungen zu recherchieren. Verflixt! Du hattest auch was dazu geschrieben, oder? Das muss ich die Tage dann mal ergänzen! 🙂

      Ja, der Roman war wirklich knallermäßig, ich hoffe sehr, dass es von Anita Nair bald noch mehr deutsche Übersetzungen geben wird. Das wäre großartig!

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